Der Michel

Die bedeutendste Barockkirche Norddeutschlands steht in der Hamburger Neustadt. Es ist die Hauptkirche St. Michaelis, benannt nach dem Erzengel Michael und in Hamburg seit Urzeiten als ‚der Michel‘ bezeichnet. Ein Wahrzeichen der Stadt und weithin sichtbar über die Elbe als letzter Gruß für seewärts fahrende Schiffe. Als ich meine Fotos sichte, vermisse ich den Namensgeber. Wo ist die Bronzestatue des Erzengels? Sie soll gleich über dem Hauptportal prangen, aber ich habe sie nicht gesehen. Allerdings gibt es viele Eingänge und ich hatte wohl den falschen im Visier. Ziemlich schusselig, aber beim nächsten Besuch korrigierbar.

Ein bisschen Pech hat den Michel schon verfolgt. Die heutige Kirche ist der dritte Wiederaufbau und stammt aus dem Jahre 1912. Immer war es das Feuer, dass ihm zum Verhängnis wurde. Mal passierte es durch Blitzschlag, mal durch Unachtsamkeit. Klempner, die das Dach reparierten, ließen eine brennende Lötlampe unbeaufsichtigt liegen. Bevor man es merkte, stand der ganze Dachstuhl in Flammen. Aber die Hamburger gaben nie auf. Schon bald begann der Wiederaufbau, stets am gleichen Ort. Der Michel war unverzichtbar, egal was es kostete. Die Bomberpiloten im Zweiten Weltkrieg verfehlten zunächst das Kirchenhaus, dann fiel aber doch noch eine Bombe in das Hauptschiff, wo sie explodierte. Zum Glück kein baulicher Totalschaden, aber die Orgelpfeifen gaben keinen Ton mehr von sich. Erneut musste repariert werden.

 

 

 

Ich war vielleicht einmal als Kind in der St. Michaeliskirche, Schulausflug, kann es aber nicht mehr erinnern. Deshalb freute ich mich umso mehr, dass ich heute Einlass fand und sogar Fotos machen durfte. Natürlich ohne Blitzlicht, aber ich hatte glücklicherweise ein lichtstarkes Objektiv dabei. Ein paar Bilder gelangen damit recht gut. Obwohl ich die Erlaubnis zum Fotografieren hatte,  fühle ich mich gehemmt, denn mir ist die sakrale Bedeutung solcher Bauten stets bewusst. Also habe ich mich auf das Wesentliche beschränkt. Keine Knips Orgie, sondern ein paar diskrete Aufnahmen für meinen Web-Blog. Ich bin durch die Turmhalle hereingekommen, von wo aus man auch zur Turmbesteigung starten kann. Aber das ist nun wirklich nicht nach meinem Geschmack, die Stufen (453 Stück) wären mir deutlich zu viele. Es soll zwar auch einen Aufzug geben, der mir dann allerdings schon wieder an einem viel zu langen Seil baumelt. Ich weiß, ich sollte mehr Gottvertrauen entwickeln und wo könnte das besser gelingen, als hier im Michel? Gerne wäre ich in die Krypta hinabgestiegen, aber das geht nur im Rahmen einer Führung und darauf wollte ich nun wieder nicht warten. Also beschloss ich die Kirche alleine zu erobern. 

[Wem das Treppensteigen wie mir zu anstrengend ist, der kann die Aussicht vom höchsten Punkt des Turmes, dort wo niemand hinkommt, ganz bequem vom Sessel aus genießen. Man hat dort oben Webcams montiert, die das Bild ins Wohnzimmer übertragen. Ja, so gefällt mir das: 360° Turmblick live.]

 

 

 

Gleich hinter dem Eingang zum großen Kirchenschiff wird auf einer Gedenktafel an drei Männer erinnert. Alle sind berühmt geworden und haben unmittelbar mit der Michaeliskirche zu tun. Als Erster wird Georg Philipp Telemann genannt. Der war in Hamburg als Musikdirektor tätig und alle fünf Hauptkirchen fielen in seine Zuständigkeit. Das muss im 18. Jahrhundert gewesen sein, denn Telemann starb 1767. Gleich daneben liest man den Namen von Carl Philipp Emanuel Bach. Ein Zeitgenosse von Telemann und vermutlicher Nachfolger im Amt. Bach starb in Hamburg und wurde im Gruftgewölbe des Michels begraben. Und dann folgt noch mein persönlicher Favorit, nämlich der Musiker Johannes Brahms. Er verließ Hamburg und machte Karriere in Wien, aber er wurde im Michel getauft, und zwar 1833. An dieser Stelle könnte ich mal erwähnen, dass meine Großeltern 1917 im Michel getraut wurden. John Peters und seine Braut Charlotte Schurack gaben sich hier das Ja-Wort und haben es ernst genommen. Erst der Tod hat die beiden getrennt.

 

 

 

Obwohl ich so selten oder möglicherweise nie im Michel war, überrascht mich der Anblick nicht wirklich. Irgendwie kenne ich den Raum aus Übertragungen im TV, wenn beispielsweise zur Weihnachtszeit eine stimmungsvolle Feier übertragen wird. Mir gefällt das Innere. Ein eher runder als länglicher Raum, lichtdurchflutet, strahlend hell, auch durch die weißen Wände, die von vielen kleine goldene Verzierungen geschmückt werden, aber nichts wirkt überladen. Schön finde ich das weiß lackierte Holz. Normalerweise lässt man es unbehandelt, also dunkel, und dann würde der ganze Raum klein, gedrungen und düster wirken. So aber ist eine wunderbare Leichtigkeit in der Luft. Das ist beste hanseatische Kultur. Ich stehe vor dem Altar, seitlich sind gleich zwei Orgeln zu sehen und dann entdecke ich die Hauptorgel hinter mir auf dem Balkon. Das ist schon ein gewaltiges Ding. Wenn da die Luft durch die Pfeifen bläst, dann ist das ganz sicherlich raumfüllender Klang. Ich glaube, ich sollte mich doch einmal zu einem Konzert hier einfinden. Mit der U-Bahn bin ich in einer halben Stunde dort, obwohl ich am Stadtrand lebe. Bequemer geht es nicht.

 

 

 

Erst letztes Jahr wurden zwei neue Glocken in den Turm gehievt und feierlich am 19. Juni 2016 eingeweiht. Es wurde live im Radio übertragen und das Datum hatte mich ganz besonders gefreut, denn es wäre der 128. Geburtstag meines oben erwähnten Großvaters gewesen. Der wäre bestimmt gleich hin marschiert und hätte großzügig gespendet. Anschließend hätte er sich zum Labskaus im Old Commercial Room ein Lütt un Lütt genehmigt. Im Faltblatt zum Michel, das ich mitgenommen habe, lese ich, dass es sogar fünf Orgeln in der Kirche gibt. Die Große wurde Opfer des Bombentreffers. So ein Pech, ausgerechnet das Prachtstück mit 163 Registern ging in die Binsen. Aber inzwischen ist alles wieder neu und schöner denn je. Eine andere alte Tradition wird am Leben gehalten. Man kann jeden Morgen und Abend den Türmer hören, der die Trompete hoch oben auf der Turmplattform in alle vier Himmelsrichtungen ertönen lässt. In früheren Zeiten wurden danach abends die Stadttore geschlossen. Heutzutage ist Hamburg glücklicherweise rund um die Uhr geöffnet.

Blitzgedanke: Das ist bestimmt die ganz harte Tour: Erst die Stufen hochlaufen und dann noch genug Puste haben, um die Trompete zu blasen. Irgendwie waren unsere Vorväter aus robusteren Holz geschnitzt.

 

 

 

Natürlich mache ich noch ein Foto von Martin Luther, dem Reformator. Ich glaube, ich hatte es schon in einem anderen Beitrag erwähnt, aber man kann es auch zweimal sagen. Ich bin mit dem dickköpfigen Mann direkt verwandt. Also irgendwie eine Ur-ur-ur-ur- …. Nichte. Leider keine Enkelin, das wäre natürlich noch besser. Aber vielleicht auch nicht, denn ich stehe mit Luther auf dem Kriegsfuß. Sicherlich hat er beachtliches für die Entwicklung der christlichen Kirchengeschichte geleistet, aber irgendwie war er auch ein ziemlich ungehobelter Klotz. Nun gut, das musste seine Frau, Katharina von Bora, ertragen, aber unverzeihlich finde ich seine Anstiftung der Bauern zum Widerstand gegen die Obrigkeit. Die gehen daraufhin natürlich auf ihren Gutsherrn los und werden ausnahmslos getötet. Ihre Frauen und Kinder werden noch am selben Tag vertrieben. Und Luther sitzt währenddessen in seinem Studierzimmer und ringt mit der Wahrheit. Später zeigt er sich entsetzt und rechtfertigt sich halbherzig: „Ich meinte doch die kirchliche Obrigkeit.“ So kann es kommen, wenn man zur Revolution aufruft und sich unklar ausdrückt. Und, ganz unter uns gesagt glaube ich ja, dass Luther ein ziemlicher Feigling war. Ein Gewitter macht dem erwachsenen Mann so viel Angst, dass er sein Jurastudium aufgibt und sich Gott als Mönch ‚anbietet‘, wenn er nur mit dem Leben davonkommt. Und dann bekommt er sein Denkmal am Michel und prompt schlägt da der Blitz ein. Also ich will ja nix sagen, aber das ist schon merkwürdig, oder?

 

Immer ein bisschen griesgrämig und trotzig schaut der Luther in die Welt. Blickt er nach oben um Gott zu erblicken oder schaut er einfach arrogant über die Menschen hinweg? Man weiß es nicht und vielleicht ist er einfach nur verärgert über den Platz, den man ihm zugestanden hat. Eine etwas dunkle Ecke am Parkplatz der Michaeliskirche.

 

Mein Besuch war kurz, aber bestimmt nicht der Letzte. St. Michaelis ist eine feine Kirche; ich war von der Größe beeindruckt und fühlte mich doch auch sofort wohl und geborgen. Ich glaube die Baumeister, -wenigsten hier sollte ich einmal auf Ernst Georg Sonnin hinweisen-, haben den Maßstab nie aus den Augen verloren. Sie bauten Großes und vergaßen dabei nie die Relation zum Menschen, der eines Tages dort im Michel getauft oder getraut werden soll. – Eine Stunde später treffe ich kurz vor dem Messberg ein Ehepaar aus Süddeutschland. Sie sprechen mich an, weil sie meine Kamera sehen und selbst auf der Suche nach fotogenen Hamburger Ecken sind. Ich schicke sie in die Speicherstadt, da findet man immer Motive, besonders wenn die Sonne so schön wie heute scheint. Als sie von meiner Micheltour hören, erzählten sie mir, dass sie dort schon vor einigen Tagen gewesen waren. Und dann gratulieren sie mir, denn sie waren von der Michaeliskirche sehr beeindruckt und finden, dass ich als Hamburgerin auf einen so schönen Bau stolz sein könnte. Erst weiß ich nicht recht, was ich damit zu tun habe und wie ich das Kompliment bewerten soll. Aber auf der Heimfahrt, in der U-Bahn, fällt es mir wieder ein. Und da verstehe ich dann, was sie meinten und freue mich tatsächlich sehr darüber Hamburgerin zu sein.

 

Nur aus der Ferne kann ich den Michel aufs Bild bekommen. Sobald ich davor stehe, ist der Bau zu kolossal, um in ganzer Breite eingefangen zu werden. Trotzdem habe ich leider den Haupteingang übersehen. Ein triftiger Grund, um noch einmal hinzugehen.