Die Kehrwiederspitze

Wissen Sie, wo die zu finden ist? Klar, weiß doch jeder, denn heute steht dort die Elbphilharmonie. Ja, fast richtig, aber eben nicht ganz. Im Norden haben wir die Kehrwiederspitze, dann folgt das Sandtorhöft und schließlich das Konzerthaus auf dem Kaiserkai. Aber das sind eigentlich unwesentliche Details. Schauen wir es uns mal auf der Karte an:

 

Der ‚Große Grasbrook‘ ist Teil einer Elbinsel, die von der Norderelbe durchtrennt wird. Der südliche Teil nennt sich ‚Kleiner Grasbrook‘ und beherbergt ausschließlich Hafenbetriebe.

Karte von: © FHH, Landesbetrieb Geoinformation und Vermessung, Lizenz: dl-de/by-2-0, Bearbeitung: www.bluepeter.de

Die Insel, innerhalb der roten Linie, ist der sogenannte ‚Grasbrook‘. Genauer gesagt der ‚Große Grasbrook‘, aber darüber werde ich einen eigenen Beitrag schreiben. Dieses Areal wurde schon im frühen 17. Jahrhundert von den Hafen- und Werftarbeiter  bewohnt. Weil es tief liegt und keinen Deich hat, überflutet es regelmäßig. Übrigens bis heute, aber die neuen Häuser in der sogenannten HafenCity sind gut gegen das Wasser geschützt. Im Notfall nutzen die Bewohner kleine Brücken wie den Kibbelstieg, um trockenen Fusses ins Stadtgebiet zu kommen.

Im Jahre 1882 beschloss der Senat genau hier den lang ersehnten Freihafen zu errichten. Die Bewohner mussten weichen. Sie wurden zwangsumgesiedelt, in neue Stadtteile wie Hamm oder auch Horn. Man hob neue Fleete aus, unter anderem das Kehrwiederfleet, und Traditionswerften mussten an das Südufer der Elbe weichen. Ihre Namen sind längst in Vergessenheit geraten, ich nenne nur einige: Richters, Johns, Somm & Söhne oder auch Peter Mendt. Auch die ‚Abendrothsche Dampfmühle‘, die am Sandtor stand, ist längst abgerissen. Einst war ihr Antrieb eine technische Sensation. Das älteste noch intakte Haus steht ganz in der Nähe und wird heute als ‚Maritimes Museum‘ genutzt. Früher war es der Kaiserspeicher B, zu seinem Pendant A komme ich noch. Man kann das Museum besuchen, um sich mal alle Ecken und Winkel eines solchen Speichers anzusehen. Leider, wie immer in Hamburg, gegen Eintritt. Das ist zum Beispiel in London nicht der Fall. Dort sind alle Museen und städtischen Galerien kostenfrei, weil man der Ansicht ist, dass das kulturelle Erbe allen gehört.  Die Kosten finanzieren die Engländer aus den Einnahmen der staatlichen Lotterie. Eine ziemlich gute Idee, wie ich finde.

 

Ich stand am Baumwall als ich dieses Foto machte. Vorne die Kehrwiederspitze, dahinter die Elbphilharmonie. An der Kehrwiederspitze ist die Wasserschutzpolizei stationiert. Oft sieht man dort auch Schauspieler und Kameraleute, denn das Revier dient als Außendrehort für die Fernsehserie ‚Notruf Hafenkante‘.

 

In früheren Zeiten war genau diese Stelle, die das Foto im Vordergrund zeigt, die Einfahrt zum Hamburger Binnenhafen. Dort entluden die Schiffe ihre Fracht auf Alsterkähne, die dann bis nach Ohlsdorf weiterfahren konnten. Kleinere Sachen wurden gleich auf einen Handkarren geladen, der dann rumpelnd über das Kopfsteinpflaster ins nächste Kontor geschoben wurde. Getreide wurde an der Einfahrt zum Sandtorhafen in den Kaiserspeicher A umgeladen. Alte Hamburger, so wie ich, können sich vielleicht noch an die Ruine erinnern. Der 18 Meter hohe Speicher, der wie ein Leuchtturm weithin sichtbar stand, hatte auf dem Dach einen sogenannten Zeitball. Das runde Ding wurde jeden Mittag, zehn Minuten vor zwölf Uhr, auf halbe Höhe gezogen. Sieben Minuten später wanderte er ganz an die Spitze, von wo er dann um Punkt 12 Uhr fallen gelassen wurde. Das war feinstes Timing und wurde von der Sternwarte Bergedorf ferngesteuert. Warum man das machte? Nun, die Schiffe waren auf einen sekundengenauen Chronometer angewiesen. Das brauchten sie für ihre exakte Positionsbestimmung, denn die ließ sich nur im Zusammenspiel von Sextant und Chronometer machen. Also schauten alle auslaufenden Schiffsführer sehr genau auf den Zeitball an der Kehrwiederspitze, bevor sie auf große Fahrt gingen. – Übrigens hat man den schwer kriegsbeschädigten Speicher dann im Jahre 1963 per Sprengung endgültig abgerissen. Bis dahin war die Zeitanzeige in Betrieb und für die Schiffahrt von Bedeutung! Heute frage ich ‚Alexa‘ wie spät es ist und schon antworte mein Radio, stets freundlich und hundertprozentig richtig. Aber wehe, der Strom fällt aus …

 

 

Der alte Hamburger Binnenhafen wurde abends wasserseitig abgeriegelt. Man wusste nie so genau, wer da nachts über die Elbe kommen mag. Klaus Störtebeker war zwar längst enthauptet worden (um 1400), -übrigens hier auf dem Grasbrook, wo man ihm ein Denkmal errichtet hat-, aber es gab auch neuzeitliche Piraten. Und deshalb wurde jeden Abend ein mächtiger Eichenstamm vor die Einfahrt des Hafens gelegt. Das gewaltige Ding schwamm auf der Elbe und ließ sich relativ mühelos hin- und herziehen. Man nannte ihn den ‚Baum‘ und dieser Name findet sich noch heute in den Straßen- und Bahnhofsnamen. Dieses Althamburger Quartier, rund um die Kehrwiederspitze, ist das Zentrum des alten Hafenhandels. Hier trafen sich die Kapitäne mit den Reedern und Kaufleuten. Umso schöner, dass sich das Viertel heute neu belebt hat. Als 104. Hamburger Stadtteil ‚HafenCity‘ ist der Grasbrook lebendiger denn je. (Als ich 2017 diesen Beitrag geschreiben hatte wußte ich nicht, dass ich ein paar Jahre später selbst dort einziehen werde. Die Faszination war schon da, inzwischen auch der Mietvertrag.)

 

 

Mein Foto habe ich 2017 aufgenommen. Ich stand an der Kaimauer des Zollkanals und blickte auf die Niederbaumbrücke, die zum Grasbrook führt. An dieser Stelle steht noch immer der ‚Neue Kran‘, denn hier befand sich früher der Hafen. Man nutzte ihn, um die Waren vom Schiff an Land zu haben. Dann wurden sie mit der Karre weiter transportiert. Eine ältere Fotografie zeigt denselben Ort aus einem etwas anderen Blickwinkel. Die Aufnahme wurde schon 1883 gemacht und man sieht den Kran am rechten Bildrand. Damals war er noch in Betrieb.

 

Bildquelle: Buch: „Vor dem Zollanschluss. Ansichten aus den zum Abbruch bestimmten Stadttheilen“, Teile 1 und 2, Hamburg 1883 und 1884, Verlag Strumper & Co., Hamburg.1883. Hohe Brücke und Neuer Kran.Vdz-06-300dpi, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons.

 

Dass man diese markante Landspitze seit alters her ‚Kehrwieder‘ nannte, ist eigentlich selbsterklärend. Hier musste jedes Schiff vorbei, dass das Wagnis auf sich nahm die Ozeane zu befahren. Aber auch eine Reise nach Stade oder Brunsbüttel war nicht ohne Gefahren. Also standen hier wohl die Frauen, um ihre Männer zu verabschieden und ihnen ein „kehr wieder“ nachzurufen. Aber es gibt Widerspruch, denn im Plattdeutschen heißt es ‚trüch‘ und nicht ‚wedder‘. Mit dem Wort ‚Kehrwedder‘ bezeichnete man eine Sackgasse und, was mir gut gefällt, eine Kneipe. Wahrscheinlich sind alle Bedeutungen richtig und je nach Gelegenheit benutzt worden.

Bevor ich zum U-Bahnhof gehe, werde ich mir vorher eine sehr deutsch zubereitete Portion ‚Fish & Chips‘ bestellen. Auf den Landungsbrücken findet man das Gericht in der Speisekarte. Weder die Pommes noch der Fisch sind ‚richtig‘, aber egal, mir schmeckt es trotzdem, denn ich habe Hunger. Dazu ein kühles Alsterwasser und dann gehts nach Hause.