Im Großen Saal der Elbphilharmonie ist kein Sitzplatz weiter als 30 Meter vom Dirigentenpult entfernt. Ein berühmter japanischer Akustiker wurde engagiert, um sicherzustellen, dass auch ganz oben, letzte Reihe, der Klang unverzerrt ins Ohr des Besuchers dringen kann. Ob das stimmt, weiß ich nicht, denn ich hatte mir einen Platz auf der Höhe des Orchesters ausgesucht. Die Musiker agieren ungefähr in der Mitte des Saales und deshalb konnte ich gleich hinter ihnen sitzen. Das hatte den Vorteil, dass ich die Dirigentin frontal sehen konnte und von den Musikern ungewohnter Weise nur den Rücken. Nun ist mein Gehör nicht geschult, deshalb kann ich die Akustik nur laienhaft beurteilen, aber eines fiel mir unangenehm auf. Dort, wo ich saß, hörte ich die Musik sozusagen ‚umgekehrt‘. Die Blechbläser, die normalerweise im Hintergrund musizieren, übertönten den zarten Klang der Streicher bei jedem Einsatz. Eigentlich war das keine Überraschung, aber ich hatte nach all dem Lobgesang auf die Akustik, ein kleines physikalisches Wunder erwartet. Es traf nicht ein, was durchaus beruhigend ist, denn es zeigt, dass in der Elphi auch nur mit Wasser gekocht wird.
Ein anderes technisches Highlight der Elphi ist ihre Fassade, die überwiegend aus Fenstern oder richtiger gesagt Glaselementen besteht. Ich sehe sie täglich, mehrmals, denn ich wohne gleich nebenan. Wenn ich mich ein wenig über die Balkonbrüstung lehne, dann kann ich sie sogar abends im Lichterglanz sehen. Diese Fassade ist wirklich etwas ganz Besonderes, denn sie scheint ein Eigenleben zu führen. Wenn es regnet, passt sie sich dem grauen Himmel an und wirkt mürrisch. Bei Sonne strahlt sie gleißend hell und spiegelt den tiefblauen Himmel. Am Abend, wenn es dunkel wird, trägt sie ihr Festkleid und legt die Perlenkette an.
Damit das funktioniert, muss die Glashülle sauber sein. Ein Job für die Gebäudereiniger, aber ein sehr spezieller Auftrag. Das kann nicht von Fensterputzern aus der Nachbarschaft erledigt werden. Da sucht man bundesweit nach Spezialisten. Eine Herausforderung ist die gigantische Fläche von über 20.000 Quadratmetern. Um die streifenfrei zu reinigen, rückt ein Spezialteam dreimal im Jahr an. Die sind dann ein paar Wochen mit der Reinigung beschäftigt. Ich glaube, es sind ausschließlich Männer, alle durchtrainierte Industriekletterer, die sich an der Fassade abseilen. Sie können nicht über die Dachkante kommen, sondern erledigen den Job ausschließlich vom Boden bzw. vom Wasser aus. Dort wird eine Schute befestigt und dann ziehen sie sich erst einmal an der Fassade mittels eines Seiles hoch. Das sieht halsbrecherisch aus und verlangt Können und Kraft.
Eine besondere Herausforderung liegt in der Konstruktion der Glasscheiben. Sie sind oftmals gewellt. Mal konkav, dann wieder konvex und deshalb nur schwer zugänglich. Die Reinigung mit scharfen Mitteln oder Hochdruck kommt alleine schon aus Umweltgründen nicht infrage, denn an zwei Seiten steht das Gebäude direkt am Wasser. Die Brühe würde also unmittelbar in die Elbe laufen. Aber das Reinigungsteam ist inzwischen erfahren und eingespielt und erledigt die Arbeit professionell. Bis Windstärke 5 bleiben sie in ihren Seilen, stärker darf der Wind nicht wehen, dann wird es zu gefährlich. Immerhin liegt der höchste Punkt des Daches auf 110 Meter Höhe. Alles, was die Männer für ihre anstrengende Arbeit brauchen, ist an ihrem Körper festgebunden. Das ergibt ein zusätzliches Gewicht von 10-15 kg pro Mann. Am Boden, wo Passanten entlanggehen können, werden Schutznetze gespannt, falls doch mal etwas fallen sollte. Die Besucher freuen sich, denn sie erleben eine unerwartete Extra-Show und zücken ihre Fotoapparate.
Vermutlich bewirbt sich niemand direkt auf einen solchen Job. Ich vermute, man kommt zufällig oder über Umwege zu einer solchen Tätigkeit. Eine harte und abenteuerliche Arbeit. Aber davon gibt es unzählige im Hafen und wenn sich die Gelegenheit ergibt, mit einem der vielen Männer und Frauen mit ungewöhnlicher Beschäftigung ein paar Worte zu reden, dann bin ich immer ganz Ohr und freue mich sehr. Übrigens fällt mir gerade auf, dass meine Fenster auch mal wieder eine Reinigung brauchen. Das fällt hier im Hafen deutlich krasser auf als in den grünen Vororten. Abgase von Schiffen und Lkws oder von der Raffinerie gegenüber legen eine regelrechte Patina aus Rußpartikeln auf die Scheiben. Egal, ob bei mir oder nebenan in der Elphi. Ich nehme es in Kauf, denn ich bin gerne dort, wo das Leben (fast) rund um die Uhr stattfindet.