Ahnenforschung macht Spaß, jedenfalls anfangs. Dann kommt der Moment, wo alles ins Stocken gerät. Man hat alle überlieferten Namen und Daten aufgeschrieben, alle Dokument sorgfältig gelesen und nun versiegt der Informationsfluss. Es lassen sich einfach keine weiteren Vorfahren finden und wo soll man sie auch suchen bzw. finden? Die meisten Leute beginnen ihre Ahnensuche kurz nach dem Tod der Eltern. Das lässt sich psychologisch erklären, ist strategisch aber kein guter Zeitpunkt. Falls man keinen Genealogen unter den Vorfahren hat, sitzt man dann ziemlich ahnungslos vor dem leeren Blatt Papier. Schon der Geburtsname der Großmutter ist den meisten nicht bekannt. Woher auch, sie wurde zu Lebzeiten stets mit dem Namen ihres Mannes angesprochen.
Mir ging es natürlich auch so, aber ich kann Hoffnung machen. Bleiben Sie am Ball. Es kann durchaus Monate oder Jahre dauern, aber ganz plötzlich, aus heiterem Himmel, fällt einem die erhoffte Information in den Schoß. Hoffentlich ist man in dem Moment wach genug, um sie zu erkennen. Mir ging es so mit meinen Londoner Ahnen. Ich wusste nichts von Ihnen. Eines Tages erfuhr ich, dass eine entfernte Groß-Cousine einen Mann geheiratet hatte, der aus London stammte. Sein Name war Edward Solly. Nie gehört, keine Ahnung, wer das sein soll. Und dann stellte sich heraus, dass die Familie Solly seit Generationen in London Großkaufleute sind, die mit Waren handeln, die sie aus dem Ostseeraum bezogen haben. Und schon war die Verbindung zu ‚meinen‘ Leuten entdeckt. Die waren nämlich ebenfalls Großkaufleute, allerdings mit Firmensitz in Stettin. Da ging ein munterer Warenaustausch hin und her und natürlich kannte man sich aus persönlich. Wobei viele Wege von London über meine Heimatstadt Hamburg in Richtung Pommern verliefen. Und zurück. Und so kam es, dass ich über Nacht Verwandtschaft bekam, die in meinem geliebten London zu Hause war.
Wann immer ich dort bin, suche ich auch mal die alten Schauplätze auf. Die City of London ist zwar architektonisch super modern, aber das Straßennetz hat sich seit der Römerzeit kaum verändert. Also lassen sich die alten Adressen gut finden. Oft ist auch eine der Kirchen noch vorhanden, in der jemand geheiratet hat oder sein Kind taufen ließ. Da habe ich dann schon die tollsten Sachen erlebt, wenn man plötzlich den Namen des Ur-Ur- … Großvaters auf einer Wandplakette liest.
Damit ich die Adressen nicht vergesse, habe ich mir diese Übersicht gemacht. Sie ist unvollständig und dient vor allem meiner eigenen Reisevorbereitung.
Solly in London
Die Familie lebte in der City of London. In der Straße St Mary Axe (Jeffreys Square), Nummer 15, hatten sie eine geräumige Wohnung. Vermutlich im selben Gebäude waren auch die Büroräume des Baltic Trade Center untergebracht. Heute steht dort das markante Bürogebäude ’15 St Mary Axe’, besser bekannt als ‘The Gherkin’. Privat hatten sie große Landhäuser, eines davon in Walthamstow. Das war damals noch in Middlesex, ist heute aber ein Stadtteil von London (bei Hackney).
Es war Richard Solly (1694-1729), der in die City gezogen ist. Er wurde noch in Holborn geboren und in der Kirche St Andrew (8) getauft. Beim Großen Brand wurde die Kirche verschont, aber im Zweiten Weltkrieg wurde das Haus bis auf die Grundmauern zerstört. Wie so oft, haben die Londoner alles wieder genauso aufgebaut, wie es vorher war.
Richard’s Sohn Isaac Solly (1724-1802) kommt in der Wohnung in St Mary Axe (8) zur Welt. Seine letzte Ruhe findet er auf dem Friedhof in Walthamstow. Das verwundert nicht, denn dort hatte die Familie ein komfortables Country House.
Die Kinder leben ebenfalls in der City of London. Einige ziehen auch in die Welt. Edward wird nach Dresden geschickt. Thomas landet als Professor für englische Sprache an der Universität in Berlin. Im Alter zieht er zurück auf die Insel und lebt in Blackheath, Kent. Hollis erwirbt ein Landhaus in Staffordshire und lebt das Leben eines Landlords.
Isaac Solly jun. (1769-1853) wird einer der Nachfolger im Familienunternehmen (Isaac Solly & Sons). Geboren wird er in der City, St Mary Axe (8). Er hat eine weitere Adresse in der City of London, wo er vermutlich ein Büro unterhält. Es ist in der Coleman Street 17 (5). Privat kauft er im Jahr 1803 für sich und die Familie ein großes Landhaus in Essex. Es war bekannt als ‘Leyton House’ und lag an der Chandos Street. Ausserdem war er der Besitzer des Solly Yard an der Themse. Er kaufte den Lagerplatz 1818 und verkaufte ihn nicht vor 1837. Die Bankenkrise, die in diesem Jahr viele in den Bankrott trieb, wird der Grund gewesen sein. Die Hochzeit mit Mary Harrison fand in der Kirche St Martin Orgar statt. Die Kirche ist auch in der City of London, in der Martin Lane (7). Die Kirche brannte im Großen Feuer ab. Nur der Turm überstand das Fiasko und steht noch heute. 1826 kaufte er sich ein Haus in der Chandos Street (2), Marylebone. Vielleicht war es nur eine Geldanlage, denn er behielt es nicht lange.
Dr. med. Samuel Solly (1805-71) wurde in Jeffrey Sq *), St Mary Axe (8) geboren. Seine Taufe fand in St Andrew Undershaft (8) statt. Die kleine, alte Kirche steht noch immer in der City, etwas verloren zwischen den neuen Nachbarn. Das sind alles gigantische Hochhäuser. Samuel war als Chirurg im St Thomas Hospital in Lambeth tätig und wohnte in der Savile Row 6 (3) in Mayfair.
*) Die Familie Jeffrey brachte es zu Reichtum durch Handel. Ihnen gehörte Land in der City. Das Grundstück wurde von der Baltic Exchange bebaut. Nach einem Bombenanschlag der IRA wurde The Gherkin dort errichtet. Auf diesem Grundstück befand sich auch die Wohnung der Solly Familie. Sie waren vermutlich Mieter bei Jeffrey.
Charlotte Solly (1803-71) lebte in Kensington. Ihre Adresse war 44 Phillimore Gardens (1). Das Haus steht noch und sieht wie am Eaton Place aus. Charlotte war eine Feministin und wurde unter dem Namen ihres 2. Ehemannes James Manning bekannt. Geboren wurde sie im Leyton House in Essex.
Richard Horsman Solly (1778-1858) war vermutlich nie verheiratet. Er lebte in der Great Ormond Street (4), Bloomsbury, und beschäftigte einen Butler namens Joseph Dolley. Richard war Arzt und Hobbygrafiker. Er entwarf das Design für eine Banknote, das aber wohl nie von der Bank of England genutzt wurde. Richard war im Kinderkrankenhaus in der Great Ormond St beschäftigt. Das liegt ganz in der Nähe des British Museum.
Samuel Solly (1727-1807), Vater von Richard, starb in der Great Ormond Street (4). Die Wohnung hat sein Sohn vermutlich übernommen. Erster Eigentümer war der Onkel mütterlicherseits Timothy Hollis. Der ursprünglich in St Mary Axe lebte und erst 1783, wenige Jahre vor seinem Tod, nach Bloomsbury umzog. Er starb kinderlos und machte deshalb seinen Neffen Richard zum Erben.
Isaac Solly Lister (1832-?) war der Ur-Enkel von Isaac Solly. Er wurde in der Cannon Street (6) geboren. Im Laufe seines Lebens erwarb er ein Herrenhaus in Camden am North End Way. Man kannte es unter dem Namen ‘Heath House’ in Hampstead. Ein Vorbesitzer war der Banker Samuel Hoare. Das Anwesen soll stets in der Familie geblieben sein, also muss Isaac mit Hoare verwandt sein (ja, Nathaniel schreibt darüber).
Und auf keinen Fall Richard Solly (1771-1803) vergessen. Sohn von Isaac und Elizabeth Neal. Er war abends oft im West End unterwegs und wohnte im York Place, Marylebon, nahe Baker Street. Gleich bei Sherlock um die Ecke.
London um 1800
Ich nutzte einen Ausschnitt von der Karte, die ich in der „David Rumsey Map Collection, David Rumsey Map Center, Stanford Libraries“ gefunden habe.
Es wundert mich stets aufs Neue, wie vertraut mir das damalige Straßenbild ist. Am Boden hat sich kaum etwas verändert. Sobald man aber auf die Häuser schaut, ändert sich das Bild binnen weniger Monate. Ich bin mehrmals jährlich in London und doch entdecke ich jedes Mal ein neues Gebäude, das offensichtlich ‚über Nacht‘ in den Himmel gewachsen ist. Im März ging ich, wie so oft, über die Millennium Bridge, die einen schnurstracks zu St Paul’s Cathedral führt. Der Anblick des Nordufers war mir bestens bekannt. Bei Ebbe sieht man den Themse-Strand. Drei Monate später bin ich an gleicher Stelle und traue meinen Augen nicht. An der rechten Seite der Brücke hat sich eine Großbaustelle eingerichtet. Ein riesiger Gebäudekomplex wird hier gebaut. Wenn ich nächstes Mal dort bin, sind wahrscheinlich die ersten Mieter eingezogen und man kann schon mal den Ausblick von der riesigen Dachterrasse genießen. Könnte schön werden, obwohl man schon jetzt die Gelegenheit hat. Wer nämlich die City of London von oben fotografieren möchte, der sollte einen Besuch im Museum Tate Modern machen. Vom Balkon im zehnten Stock hat man einen atemberaubenden Ausblick auf die Stadt. Und das Beste daran ist, dass man es kostenfrei genießen darf.
Auf der alten Karte von London habe ich einige Ort markiert, die von den Familien Solly und Hollis genutzt wurden. Sie hatte dort ihre Büros oder Kontore, wie wir in Hamburg sagen würden, oder sie wohnten dort. Der Hansehafen war sicherlich für sie von Bedeutung, wenn auch die Holzhäfen ein Stück weiter flussabwärts lagen, dort wo die Themse ihre Schleife um die Isle of Dogs beginnt. Alle Kaufleute, die im ‚timber business‘ tätig waren, werden dort ihre Ware von den Schiffen in die Lagerschuppen transportiert haben. Alle Adressen liegen nahe beieinander, man konnte von der Wohnung (Broad St) bequem zu Fuß ins Haus des Baltic Trade (St Mary Axe) gelangen. Isaac Solly wohnte mit seiner Familie gleich nebenan im St Jeffreys Square. Ihr Country House in Walthamstow lag in nördlicher Richtung, bereits in Essex. Heute ist es in London eingemeindet und kann mit der Overground Line erreicht werden. Die Solly Männer werden den Weg mit Pferd zurückgelegt haben und wenn Frau und Kinder dabei waren, mit einer Kutsche.