Im Keller des Michels

Wir können zwar längst wieder verreisen, aber mir macht es keinen Spaß mehr. Die Hotels kosten bis zu achtzig Prozent mehr, jedenfalls in Zentral-London, und die An- und Rückreise ist noch immer ein Glücksspiel. Mal streikt man am Flughafen, dann verweigern sich die Piloten und über Weihnachten liegt der gesamte Bahnverkehr still (ebenfalls London und England). Das ist mir zu stressig, aber immer in derselben Umgebung aufzuwachen macht auch keinen Spaß. Deshalb bin ich einen Kompromiss eingegangen. Ich bleibe in Hamburg, leiste mir aber ein paar Übernachtungen in einem guten Hotel. Prima Sache. So lerne ich meine Heimatstadt neu kennen, denn eigentlich wohne ich ganz am Stadtrand und komme nicht oft ins Zentrum. Wenn ich dort aber ein komfortables Zimmer mit Service habe, dann sieht die Sache ganz anders aus. So habe ich es im August gemacht, anlässlich der Cruise Days und des Hafengeburtstages, und so machte ich es Anfang Dezember, um in aller Ruhe die Weihnachtsmärkte zu besuchen. Und weil am Abreisetag noch Zeit war und der Michel gleich neben dem Hotel steht, nutzte ich mein längst im Internet erworbenes Ticket, um mir endlich einmal den Keller der Kirche anzusehen.

Der Raum, von dem ich spreche, wird Krypta genannt und ist in vielen großen, manchmal aber auch in kleineren Kirchen zu finden. Besonders bekannt ist die Krypta in Rom (Petersdom), denn dort finden die verstorbenen Päpste ihre letzte Ruhestätte. In London existiert ein riesiges unterirdisches Gewölbe unter der St Paul’s Cathedral und ich nutze jedes Mal die Gelegenheit mir es anzusehen. Es beherbergt die Sarkophage von unzähligen berühmten Männern, darunter Admiral Nelson. Frauen fanden selten Aufnahme in diesen Gedenkstätten. Aber auch in der deutlich kleineren Kirche am Trafalgar Square (St Martin’s-in-the-fields), gibt es eine Krypta. Dort macht man es besonders schlau und nutzt den architektonisch einmaligen Raum als Restaurant und Café und am Mittwochabend lädt man zur Jazzmusik ein, mit Live-Band und gut gezapften Bier ein. 

Das Kellergewölbe im Hamburger Michel kann durchaus mithalten, es erinnert mich sogar sehr stark an St Martin’s. Die Nutzung ist für meinen Geschmack ausbaufähig, man sollte auch dort mal über ein bisschen Gastronomie oder Unterhaltung nachdenken. Es wäre doch schön, wenn sich hier öfter Menschen treffen würden. Ursprünglich diente die Krypta ausschließlich zur Beerdigung der Toten, das ist aber längst Geschichte. Wer es sich damals leisten konnte, kaufte sich eine Grabstelle direkt in der Kirche. Man legte die Leichen in den Boden und deckte das Grab mit einer Gedenkplatte ab. So konnte die Gemeinde in unmittelbarer Nähe zu ihren Verstorbenen den Gottesdienst feiern. Eine nette Idee, mit Nebenwirkung. Denn die Toten waren nicht ausreichend mit Erde bedeckt und verströmten oft schon nach kurzer Zeit einen üblen Geruch. So mancher Kirchgänger hielt sich tapfer das Taschentuch unter die Nase, das vorher mit Eau de Cologne getränkt wurde. Trotzdem war der Gestank, gerade an warmen Tagen, kaum erträglich. Und so kam man auf die geniale Idee, die Grabstellen eine Etage tiefer zu legen. Die Krypta war erfunden und durch eine massive Decke vom Kirchenraum getrennt. Die Geruchsbelästigung war gebannt, ab sofort waberte nur noch Weihrauchduft in die Nasen der Gemeindemitglieder.

 

 

Im Michel führt eine schmale Treppe in das Untergeschoss mit den Gräbern. Man hat ein Hinweisschild aufgestellt, sonst würde man wohl achtlos am Zugang vorbeilaufen. Der Unterschied zwischen der Kirche und der Krypta ist gewaltig, denn der Michel ist für seine helle Gestaltung bekannt. Er wird von freundlichen weiß und gold Tönen dominiert. Die großen Fenster sorgen für eine wahre Lichtflut, die alles hell und freundlich wirken lässt. In der darunterliegenden Etage, also in der Krypta, ist es hingegen stockdunkel. Dort gibt es keine Fenster, denn man befindet sich unter dem Straßenniveau. Aber man hat für künstliche Beleuchtung gesorgt und das sogar in besonders schöner Weise. Ein wunderbar warmes Licht empfängt den Besucher. Geschickt folgte man der Statik des Bauwerks und leuchtete die Teile aus, die für die Tragfähigkeit von Bedeutung sind. Das ist wirklich gelungen und ein Grund mehr, warum ich es schade finde, dass ich dort nicht eine Kaffeepause machen kann.

Als ich erstmals die Krypta betrat, war ich über die Größe des Raums überrascht. Dann erfuhr ich, dass sie genau unter der Kirche liegt und die Grundrisse identisch sind. Wenn oben ein Gottesdienst gehalten wird oder eine musikalische Veranstaltung stattfindet, ahnen wohl die wenigsten von diesem Kellergeschoss unter ihren Füßen.

Mir kam sofort in den Sinn, welche Kräfte hier auftreffen. Das ganze Kirchenschiff lagert auf diesem Raum und deshalb sind überall gewaltige Stützen zu sehen. Sie bestehen aus Granit und sind augenfällig massiv ausgebildet. Trotzdem wirken sie ästhetisch, fast elegant, und das wird von der modernen Lichtgestaltung noch unterstrichen. Es wirkt so, als würde die niedrige Decke über den Säulen schweben. Dadurch entsteht der Eindruck von Leichtigkeit und es wirkt auch im besten Sinn ein wenig abgehoben. Das verträgt sich gut mit dem Wesen der Spiritualität.

Der Fußboden besteht aus unzähligen Sandsteinplatten, alle mit Namen und Inschriften versehen. Sie erzählen von den Menschen, die hier begraben wurden. Oft teilen sich Familien eine Grabstelle. Dabei wird nur der Name des Mannes genannt, seine Frau und Kinder werden nebenbei, namenlos, erwähnt. Wie so oft im Leben gab es teure und weniger kostspielige Plätze. Die billigen liegen am Rand, nahe zur Außenmauer oder zum Turm. Vermutlich sind inzwischen alle leer, denn man hat wohl die Skelette auf einen Friedhof umgebettet, aber die Platten hat man liegen lassen. Schon dreimal musste der Michel von Grund auf neu errichtet werden, weil ein Feuer ausbrach und nur noch die Grundmauern stehen liess. Das waren Gelelgenheiten, auch die Krypta gründlich aufzuräumen.  Beim dritten Brand (1906), blieb das Kellergewölbe fast unbeschädigt, aber das Löschwasser hatte sich dort gesammelt. Da begann dann ein ‚Groß-Reinemachen‘ in der Krypta.

 

 

Berühmte Hamburger Namen finden sich reichlich auf den Grabplatten, darunter sind zwei besonders gekennzeichnet. Einmal ist es die Grabstelle des Architekten Ernst Georg Sonnin und dann natürlich das Grab des Komponisten Carl Philipp Emanuel Bach. Er war der Sohn des berühmten Johann Sebastian Bach, aber zu Lebzeiten war der Hamburger Bach dem Vater an Bekanntheit überlegen. Sein Halbbruder Christian wanderte nach London aus, wo er natürlich auch als Komponist tätig war und ebenfalls hochgeschätzt wurde. Fängt man an, sich für die Familie Bach zu interessieren, kommt man aus dem Staunen nicht heraus. Ihre Familiengeschichte ist (fast) bis Adam und Eva nachvollziehbar und rund um die Generation von Johann Sebastian waren alle 1. sehr fruchtbar und 2. hochmusikalisch. Ob ein kausaler Zusammenhang besteht, weiß ich nicht, kann es mir aber durchaus vorstellen.  

Mein Fazit: Ein Besuch im Michel lohnt sich immer. Wer den Gottesdienst schätzt, wird sich dort wohlfühlen. Die Konzerte sind legendär, nicht nur zur Weihnachtszeit. Und ein Besuch nur mal so, außerhalb jeder Veranstaltung, ist immer eine Wohltat. Eine kurze Pause auf einer der Bänke lädt meine innere Batterie zügig wieder auf. Das liegt wohl an der hellen, freundlichen Atmosphäre. Ab sofort werde ich aber auch öfter mal einen Abstecher in die Krypta machen. Da lässt sich bestimmt noch vieles entdecken, was ich beim ersten Besuch übersehen habe. Falls wir uns über den Weg laufen sollten, würde es mich freuen.

 

 

Kinder und Enkel von Johann Sebastian Bach

Nur ein winziger Ausschnitt aus der endlosen Generationsfolge dieser bemerkenswerten Familie (lässt sich mit Mausklick vergrößern). Mir ging es um den ‚Hamburger Bach‘ und seinen Halbbruder, der nach London ging und dort wirkte. Der Vater, Johann Sebastian, heiratete ein zweites Mal, nachdem seine Frau relativ jung verstorben war. So hatten die beiden Brüder verschiedene Mütter. Der Verwandtschaftsgrad wird in meiner Übersicht genannt und könnte zur Verwirrung führen. Da werden oftmals zwei unterschiedliche Grade angegeben. Grund ist der Umstand, dass die erste Ehefrau von Johann Sebastian Bach gleichzeitig seine Cousine 2. Grades war. So kommt es dann, dass der leibliche Sohn über die Ehefrau auch der Neffe ist. Ziemlich kompliziert und eigentlich auch gar nicht so wichtig. (Ja, ich höre sie Aufstöhnen, die Genealogen. Aber man kann selbst diese Wissenschaft mit Humor ausüben.)

 

Grafik: www.bluepeter.de