Marathon

Die Nacht war kurz. Beim Aufwachen war ich noch ziemlich müde. Dabei bin ich früh zu Bett gegangen, aber mitten in der Stadt ist es laut. Und wenn dann die Tage länger werden und die Temperaturen milder, dann sind die Besucher noch spät unterwegs. Das muss man in Kauf nehmen, wenn man zentral wohnen möchte. Heute Nacht waren es aber gar nicht die Nachtschwärmer, die mich wach gehalten haben. Es waren keine Touristen, sondern benachbarte Wesen, die hier viel länger leben als ich. Es waren Möwen, die natürlich im Hafen zu Hause sind. Vermutlich waren es die großen Brüder, die sogenannten Seemöwen, die ungefähr doppelt so groß sind wie die ’normalen‘ Möwen. Ich mochte sie auf Anhieb, egal ob groß oder klein. Am Stadtrand, wo ich vorher wohnte, hatte ich diese Wasservögel nie gesichtet. Aber hier, im Hamburger Hafen, gehören sie zum Inventar. Sie sind sehr aufmerksam, klauen einem gerne die Fritten aus der Tüte und machen ein Mordsspektakel. Mal hört es sich nach herzhaftem Gelächter an, mal nach handfesten Streitigkeiten. Singen können sie gar nicht, aber ihre Ausdrucksweise ist vielfältig und wirkt auf mich oft verständlich. Leider scheinen Möwen nachts regelmäßig aufzuwachen. Dann kreisen sie um die Dächer der HafenCity und schweben lustvoll über die Dachwellen der Elbphilharmonie. Die engen Straßenschluchten nutzen sie für waghalsige Sturzflugmanöver, die stets fehlerfrei geflogen werden. Sie selbst kommentieren ihr luftiges Spiel mit lustvollen Schreien. Da wird in höchsten Tönen jubiliert oder auch schrill gepfiffen. Keine Frage, es macht ihnen große Freude und eigentlich schaue ich gerne zu. Nur mitten in der Nacht …, nun ja.

 

 

Heute, am letzten Sonntag im April, fand der Marathon in Hamburg statt. Eine internationale Veranstaltung mit großen Namen unter den Teilnehmern. Sobald die Sportler gestartet waren, gingen die nicht minder engagierten Hobbyläufer auf die Strecke. So kam ein riesiges, buntes Feld zusammen. Die Zahl der Aktiven war wohl höher als jemals zuvor. Ich werde zwar niemals mitlaufen, hatte aber schon große Lust als Zuschauerin klatschend und anfeuernd dabeizusein. Später als geplant, erst kurz vor zehn, machte ich mich auf den Weg. Und da merkte ich wieder, dass das Wohnen im Zentrum auch sehr privilegiert sein kann. Ein kurzer Fußweg reichte, dann stand ich auch schon an der Laufstrecke. Man hatte die sich für die Straßen entlang der Elbe entschieden, also die Vorsetzen, den Baumwall und dann immer entlang am Zollkanal und der Speicherstadt. Das Wetter war wie bestellt, sonnig, wenig Wind, fast schon zu warm, aber nicht für mich, denn ich hatte nicht vor, mich körperlich auszupowern.

Es dauerte gar nicht lange und die ersten Läufer kamen in Sicht. Dann tauchte die zweite Gruppe auf und schließlich nahm es gar kein Ende mehr. Mir schien, dass ganz Hamburg angetreten war. Ich hatte bisher erst einen anderen Marathon erlebt und das war vor einigen Jahren in London. Auch dort ging es mitten durch die Innenstadt, zahlreiche Straßen waren für den Autoverkehr gesperrt und Menschenmassen standen auf den Fußwegen und feuerten ihre Favoriten an. Und doch war es dort irgendwie anders als der Lauf in Hamburg. Wenn ich heute Vormittag den Teilnehmern in die Gesichter schaute, dann war da viel Anstrengung und wenig Freude zu sehen. In London war das anders. Nicht etwa, weil man dort besser trainiert hatte, vermutlich stimmt eher das Gegenteil, sondern weil man dort andere Schwerpunkte setzt. Den Engländern war es wichtig, die Zuschauer zu unterhalten, damit sie bereit waren, viel Geld zu spenden. Das kam dann diversen wohltätigen Zwecken zugute. Damit das funktioniert, hatten sich viele Aktive kostümiert. Der typisch englische Spieltrieb wurde dabei voll ausgereizt. Das Ankommen oder gar die Laufzeit war zweitrangig. Deshalb wurden die Getränkepausen gerne auch mal im Pub eingelegt. Hauptsache, alle hatten Spaß. Aber das hatte ich eigentlich auch heute gehabt und wenn wir solche Dinge etwas ernsthafter durchführen, dann ist das durchaus berechtigt. Ein Gefühl hatte ich in beiden Städten beim Zuschauen und Anfeuern: Größten Respekt vor der Leistung der Läufer!