Meine ganz persönliche Zeitreise

Als ich letzte Woche mit dem Bus zum Dahliengarten gefahren war, kamen wir auch am Altonaer Bahnhof vorbei. Obwohl ich Häuser und Straßen nur im Vorbeifahren sah, fiel mir sofort auf, dass Altona ein ganz eigenes Stadtbild hat. Das möchte ich mir gerne näher ansehen und startete deshalb heute zu einem ersten Ausflug. Mein Ziel war der Park, zwischen Bahnhof und Palmaille, in dem auch das markante ‚Weiße Haus‘ steht, das den Altonaern als Rathaus dient. Altona ist übrigens ein Bezirk, zu dem Stadtteile wie Ottensen und Sternschanze, aber auch Blankenese und Rissen gehören. Bis 1938 war Altona eine selbstständige Stadt. Die Stadtrechte hatte man vom dänischen König erhalten und bis 1864 stand man unter dänischer Verwaltung. 

Ich war noch nie in Altona, obwohl meine Vorfahren hier ansässig waren. Mein Urgroßvater, Fritz Peters, war ein Kapitän auf großer Fahrt. Nach seiner Heirat wurden fünf Kinder geboren und seine Ehefrau drängte darauf, dass er die Seefahrt aufgibt. Vielleicht war die Geburt meines Großvaters John der Anlass, dass er dem Wunsch nachgab. Jedenfalls kaufte sich Fritz Peters um 1888 ein Haus in Ottensen. Im Erdgeschoss zog er mit seiner Familie ein und die anderen Wohnungen wurden vermietet. So hatte er ein regelmäßiges Einkommen. Seine Biografie habe ich auf dieser Seite geschildert. Seine genaue Adresse kenne ich von einer Fotografie, die sich irgendwie bis heute erhalten hat. Es scheint eine Seite eines Fotoalbums zu sein, die aber leider nicht mehr vorhanden ist. Nur diese eine Seite landete merkwürdigerweise in meinem Besitz. Es zeigt meinen Urgroßvater und meinen Vater, der auf seinem Schoß sitzt. Beide wurden im Garten des Hauses fotografiert, mit Angabe des Datums und der Adresse. Wer immer das geschrieben hat, wahrscheinlich mein Großvater John, hat mir einen großen Gefallen gemacht. Eines Tages, so hatte ich es mir schon vor Jahren vorgenommen, werde ich dort einmal hinfahren. 

Heute war es so weit, obwohl ich es eigentlich gar nicht geplant hatte. Aber als ich am Altonaer Bahnhof stand, merkte ich schnell, dass die Entfernung zum Haus der Großeltern nicht weit war. Warum also nicht? Warum nicht einen kleinen Umweg machen, um endlich das Vorhaben abzuschließen? Ich war mir sicher, dass das Gebäude nicht mehr steht. Immerhin sind seit dem geschätzten Kaufdatum rund 136 Jahre vergangen. Da ist es doch sehr unwahrscheinlich, dass noch irgendeine Spur zu finden ist. Aber Nachsehen ist besser als nur zu vermuten. 

Die Arnoldstraße gehört zu Ottensen. Früher war hier Industrie angesiedelt, Ottensen galt als Gewerbegebiet. Heute ist es eine der begehrtesten Wohnadressen für Mittelschichtfamilien und Akademiker. Sofort fallen mir Orte auf, die der Kultur dienlich sind. Man zeigt sich kreativ, stellt bunte bestückte Pflanzkübel vor die Haustür und hängt bunte Wimpel über die schmale Straße. Ich finde die Arnoldstraße sofort und folge ihr bis zur Hausnummer 44. Das ist am westlichen Ende, wo die Straße noch etwas enger wird und die grünen Vorgärten so gar nicht nach Großstadt aussehen. Und dann stehe ich vor dem Haus und kann es gar nicht glauben. Die Fassade wurde renoviert, auf dem Dach sind Solarpaneele montiert, aber die Haustür und das Gebäude dürften noch immer so aussehen, wie mein Urgroßvater es gekannt hat. Das Foto, das ich von ihm habe, muss vor der Tür, also an der Straßenseite, entstanden sein. Und tatsächlich ist der Platz noch heute genauso vorhanden. Eine nette kleine Terrasse vor der Erdgeschosswohnung auf der rechten Seite. Ich stehe mit offenem Mund vor dem Haus und ein Passant lächelt mich freundlich an. Er hat wohl mein Staunen bemerkt. Wir kommen ins Gespräch und er erzählt mir, dass er seit über siebzig Jahren in der Nachbarschaft wohnt. Er kennt sogar die Mieter, die jetzt in der Wohnung leben und beschreibt sie mir mit netten Worten. Mit einem solchen Auftakt hatte ich heute Morgen wirklich nicht gerechnet. Erneut mache ich die Erfahrung, dass sich Informationen über Jahrhunderte bewahren können und dann auf magische Weise den Weg zum richtigen Empfänger finden. Tja, ihr Lieben, Urgroßvater Fritz, Großvater John und Vater Gerd, ich bin zurückgekehrt, wenn es auch gedauert hat.

 

 

 

Die eigentlichen Ziele meiner kleinen Fototour sind zweitrangig geworden. Zum Glück wohne ich inzwischen nahe genug, um regelmäßig hierherzukommen. Das werde ich auch ganz bestimmt machen, denn Altona ist attraktiv. Es gibt ein großes Einkaufszentrum, ein IKEA Möbelhaus, viele nette Restaurants, einige Parks und Friedhöfe und einen Fähranleger. Ich gehe zurück zum Platz der Republik, der eine große Grünanlage ist, mit einigen Attraktionen. Dazu gehört das Altonaer Theater und das Museum, dem ich aber einen eigenen Besuchstag machen werde. Heute will ich mir nur noch den oft erwähnten Brunnen und das Rathaus ansehen. Dann steige ich wieder in den Bus ein und fahre zurück in die HafenCity.

Der Brunnen ist gigantisch. Ich sehe ihn schon aus der Ferne und staune über den Anblick. Er hat den schlichten Namen ‚Stuhlmannbrunnen‘, benannt nach dem vermögenden Stifter. Er hat ihn gar nicht mehr gesehen, denn das beeindruckende Werk wurde erst 25 Jahre nach dem Tod von Günther Ludwig Stuhlmann errichtet. Die Einweihung fand am 1. Juni 1900 statt und ich bin mir ziemlich sicher, dass Fritz Peters mit Frau und fünf Kindern anwesend war und mitgefeiert hat. Man sieht zwei meterhohe Zentauren, die um einen enorm großen Fisch ringen, der bereits im Netz gefangen ist. Symbolisch stehen die Pferd/Mensch Gestalten für Altona und Hamburg, die tatsächlich lange Zeit in erbitterter Konkurrenz standen, wenn es um Fangquoten und Fischverarbeitung ging. Lange hatte das kleinere Altona die Nase vorn. Ihr Hafen liegt näher an der Nordsee, was von Vorteil ist. Der Brunnen ist ein echter Hingucker und mit der Einschätzung war ich nicht alleine. Die Bänke rund um das Wasserbassin waren nämlich gut gefüllt.

Gleich nach dem Brunnen taucht der Eingang zum Altonaer Museum an der rechten Parkseite auf. Sie haben einen Shop mit vielen interessanten Büchern, die sich mit Altona beschäftigen. Ich werde bald wiederkommen. Dann taucht der Eingang zum Altonaer Theater auf, gleich neben dem Museum. Wie praktisch, hier findet man die Kultur an einem Platz, der auch noch gut erreichbar ist. Und den Abschluss der Grünanlage bzw. des ‚Platz der Republik‘ bildet dann das Rathaus. Ursprünglich war die Altona-Kieler Eisenbahn-Gesellschaft in diesem Gebäude untergebracht. Was mich sofort wieder zu meinen Vorfahren führt. Es erklärt, warum mein Großvater John seine Ehefrau Charlotte kennengelernt hat, deren Vater Lokführer dieser Gesellschaft war. Er hat sogar einmal den Sonderzug des Kaisers von Altona nach Kiel gefahren. Eine Geschichte, die noch zu meinen Lebzeiten bei jeder Geburtstagsfeier ausführlich erzählt wurde. Und da schließt sich dann der Kreis, denn der besagte Kaiser (Wilhelm I.) sitzt jetzt hoch zu Ross direkt vor mir. Dem Rathaus und den dort tätigen Menschen wendet er lediglich seinen Rücken zu. Das ist nicht freundlich, ermöglicht aber Besuchern, nette Fotos mit schöner Kulisse zu machen. Die Einweihung des Denkmals fand übrigens am 18. Juni 1898 statt und der kaiserliche Enkel (Wilhelm II.) war persönlich mit der Gattin anwesend. Man kann sich das Gedränge vorstellen und die Jubelrufe der Bürger. Einer wird den Tag lange im Gedächtnis behalten haben. Denn einen Tag später, am 19. Juni, wurde mein Großvater John 10 Jahre alt. Keine Frage, dass seine Eltern mit ihm vor Ort waren, um einen Blick auf das Kaiserpaar zu erhaschen. Das war schon immer so, auch wenn man damals noch keine Selfies machen konnte. Ein Bild wurde aber trotzdem gespeichert und für alle Zeit in den Gedanken aufbewahrt.

 

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