Michel-Größen

„Gott der Herr ist Sonne und Schild“. Ein Satz aus dem Psalm 84 und eine Kirchen-Kantate von Johann Sebastian Bach. Damit hätten wir schon die Verbindung zur St. Michaeliskirche in Hamburg gefunden. Die hat sich diesen Leitspruch als Motto auf ihre Startseite im Internet gestellt. Das Lied ist eng mit dem Reformationsfest verbunden, denn Bach spielte es erstmals öffentlich am 31. Oktober 1725. 

Der große Bach, Johann Sebastian, wirkte vor allem in Leipzig, aber sein Sohn Carl Philipp Emanuel zog es nach Hamburg. Nachdem sein Taufpate Georg Philipp Telemann verstorben war, bewirbt sich C.P.E. Bach auf die angesehene Stelle und bekam den Zuschlag. Damit wurde er ab 1768 Musikdirektor an den fünf Hamburger Hauptkirchen. Zusätzlich unterrichtete er die Schüler im Johanneum in musikalischer Bildung und komponierte für festliche Anlässe passende Musik. Er wurde zum Superstar und war zeitweilig berühmter als sein Vater. 

Bis zu seinem Tod im Jahr 1788 blieb Bach den Hamburgern treu. Die dankten ihm mit einem prachtvollen Begräbnis und einer Gruft in der Krypta der Kirche. Die Grabplatte ist bis heute dort zu sehen und darunter sollten sich auch die Gebeine der kinderreichen Familie befinden. Neben Telemann und Bach verweist die Kirche stolz auf deine dritte Persönlichkeit, die mit dem Michel verbunden war. Es handelt sich um den berühmten Johannes Brahms, der in Wien gelebt hat, allerdings norddeutscher Abstammung war. Als er 1833 in Hamburg zur Welt kam, ließen ihn die Eltern im Michel taufen. Grund genug, auch ihn in die Reihe der berühmten Männer zu stellen, die in irgendeiner Weise mit der Michaeliskirche verbandelt waren.

 

 

Ein Tief zog letzte Nacht über die Nordsee und erreichte morgens die Stadt. Der Wind bläst kräftig aus West und das merkt man im Hafen ganz besonders. Da hat er viel Platz, um Anlauf zu nehmen. Die Böen folgen der Elbe und pusten einen fast um, wenn man unvorbereitet aus dem Windschutz einer hohen Fassade auf eine Brücke tritt. So war das heute Morgen und mein Entschluss stand schnell fest. Statt einen Promenaden-Bummel zu machen, würde ich lieber mal wieder den Michel aufsuchen. Der ist immer einen Besuch wert und das neue, gut renovierte Besucherzentrum ist einer meiner Lieblingsplätze. Immer werde ich freundlich empfangen, kann ein paar Worte wechseln, wenn kein Andrang ist, und die Auswahl an Büchern und kleinen Souvenirs ist gut gewählt. Fast immer werde ich fündig, so auch heute Morgen. Ein kleines interessantes Buch über das Wunderwerk der Orgel (für 1 Euro) und ein wirklich hübsches Modell der Kirche (8,50 €) fanden mein Interesse und also nahm ich beides mit. Dazu noch, sozusagen als Sahnehäubchen, ein Ticket für einen Plattdeutschen Nachmittag. Die sympathische Benita Brunnert, die ich vom Radio NDR 90,3 kenne, wird plattdeutsche Geschichten vertellen. Das dürfte nett und kurzweilig werden.

Ich erinnere meinen letzten Besuch im Michel bei strahlendem Sonnenschein, aber diesmal hingen dunkle Wolken am Himmel und dadurch war eine völlig andere Atmosphäre im Kirchenraum zu spüren. Die hohen, lichtdurchlässigen Fenster, die üblicherweise die weißen Wände und Emporen erstrahlen lassen, fingen heute nur trübes Wetter ein. Da fehlte die Lichtquelle, um den großen Raum mit Energie zu füllen. Aber es war in Ordnung, denn Leben besteht aus vielen Facetten und vielen Stimmungen.

Vor der Tür parkten inzwischen acht Reisebusse. Einer kam aus der Schweiz, die anderen aus weit entfernten deutschen Bundesländern. Einige Reisegruppen bestanden überwiegend aus Senioren, andere schienen gemischter zu sein und einer hatte eine Schülergruppe an Bord. Mit dem Fahrer kam ich ins Gespräch. Er erzählte mir, dass die Jugendlichen wenig Interesse am Reiseziel hätten. Weder an der Kirche noch am Bauwerk. Trotzdem müssen sie den Ausflug absolvieren. Hoffentlich hat man ihnen wenigstens von Martin Luther erzählt, der mahnend vor dem Gebäude steht. Er forderte Aufklärung, wünschte sich kritischere Kirchgänger. Ich fürchte, bei dieser Schulklasse stößt er auf Unverständnis, weil die Grundlagen nicht vorhanden sind.

 

 

Kaum sind die Besucher aus dem Bus ausgestiegen, schon zücken sie ihr Smartphone. Bloß kein Bild verpassen. Ich kann es gut nachvollziehen, ich fing genauso an. Irgendwann merkte ich dann, dass ein schlechtes Motiv nicht besser wird, wenn man es zweimal aufnimmt. Wirklich befremdlich ist für mich die Angewohnheit der Selfie-Knipser. Was immer sie fotografieren, kann nur mit ihrem Gesicht im Vordergrund gemacht werden. Und da wird dann auch im Michel keine Ausnahme gemacht. Man geht leise und würdevoll in Richtung Altar und sobald man vor dem Opfertisch, mit Kreuz und Jesus steht, dreht man sich um und drückt auf den Auslöser. Selfie mit Jesus, der leidend über die Schulter des Fotografen blickt. Was hätte Martin Luther dazu gesagt? Wahrscheinlich erst einmal gar nichts und dann, wenn er es verstanden hätte, was wir heute so gerne praktizieren, dann hätte er wohl sehr laut gelacht. 

Der Michel ist geduldig. Er lässt es tagtäglich zu, dass die Touristen in Scharen kommen. Einige bleiben im Eingang stehen, bekreuzigen sich in aller Eile, und starten dann umso energischer die Besichtigungstour. Eigentlich unüblich in einer evangelischen Kirche, aber vielleicht hat ihnen das niemand gesagt. Andere nehmen das Angebot der ‚Opferkerze‘ an. Für einen Euro darf man ein bereitliegendes Teelicht entzünden. Mit Glück wird es im Himmel bemerkt. Erwartet man eine Gegenleistung? Ein wenig Gnade, etwas mehr Gerechtigkeit oder einfach Gottes Schutz? Das wäre dann aber bedenklich nahe am Ablasshandel und würde dem Reformator gar nicht gefallen. Eine andere Möglichkeit, sich zu bedanken, hat man am Ausgang aufgestellt. Eine Spendenbox mit der Bitte um zwei Euro, der für den Erhalt der Michaeliskirche gebraucht wird. In dieser Box klingelt es selten. Die meisten eilen so schnell wie möglich daran vorbei. Vorher dreht man den Kopf zur Seite, dann kann niemand sagen, man hätte die Bitte missachtet. Stattdessen noch schnell auf die Toilette, bevor man den Bus wieder besteigt. Abends wird jemand das WC reinigen, der/die sich vielleicht über ein Trinkgeld gefreut hätte. „Denn Gott der Herr ist Sonne und Schild; der Herr gibt Gnade und Ehre. Er wird kein Gutes mangeln lassen den Frommen.“