Jeden Tag lerne ich dazu. Mal nur wenig, dann aber, so wie heute, werden mir meine Vorurteile binnen kürzester Zeit geschreddert. Es fing ganz harmlos an. Ich hatte einen Spaziergang zum Michel geplant und das Wetter spielte mit. Der Gottesdienst hatte besondere Besucher, nämlich Motorradfahrer. Sie trafen sich schon früh am Morgen auf der Ludwig-Erhard-Straße (eine Hauptverkehrsachse im Hamburger Zentrum) und fuhren dann gemeinsam zum Michel. Das ist eine der Hamburger Hauptkirchen und vermutlich die bekannteste. Dort stand ich auf dem großen Vorplatz und wartete neugierig auf die Biker. Sicherlich schwere Jungs mit schweren Maschinen. Ob sie friedlich sind (also die Jungs)? Wenn nicht, lasse ich meine Kamera lieber in der Tasche. Womöglich mögen sie es nicht, wenn man fotografiert. All das ging mir durch den Kopf und nichts davon stimmte. Alles dumme Vorurteile. Gut, dass ich die aufräumen konnte.
Man erwartet mehrere zehntausend Biker, je nach Wetter. Das könnte auch in diesem Jahr klappen, aber ein anderes Großereignis bremst die Fahrer aus. Die Autobahn A7 ist nämlich mal wieder gesperrt. Dort wird gebaut und man nutzt das Wochenende, um das Chaos in Grenzen zu halten. Die Motorradfahrer müssen deshalb auf ihre traditionelle Fahrt in die Nordheide verzichten. Sie bleiben stattdessen am Michel und feiern bis in den Nachmittag. Vorher findet aber der Motorradgottesdienst (MoGo) statt, mit Ölung und Segen. Anschließend startet die Party vor der Kirche, mit Rockmusik und ohne (!) Alkohol. Dieser Trend scheint sich durchzusetzen. In meiner Nachbarschaft hat ein neues Restaurant eröffnet, das ebenfalls auf alkoholische Getränke verzichtet und trotzdem gut besucht ist. Auch abends. Da wird lecker gegessen und viel gelacht. Geht also auch ohne Sekt, Bier und Spirituosen.
Ich weiß nicht genau, was ich erwartet hatte, jedenfalls war ich vor Ort ziemlich überrascht. Ein Motorrad nach dem anderen traf ein und viele Fahrer und (Bei-) Fahrerinnen waren in meiner Altersklasse, also längst im Ruhestand. Selten habe ich so viele 65+ Männer in Lederzeug gesehen. Manche davon attraktiv, andere erinnerten mich eher an die Michelin Figur, stramm in die Hülle gestopft. Macht aber nix, denn wichtiger ist der Inhalt und der war gut. Man lachte, war freundlich, fröhlich und hilfsbereit. Ein verschworener Freundeskreis, den ich mir auch wünschen würde. Allerdings ohne Motorradfahren, dann schon lieber flanierend zu Fuß unterwegs. Dann begann die Musik. Rock Antenne, ein Hamburger Radio-Sender, hatte eine kleine Bühne aufgebaut. Ein Mann mit Gitarre begann zu singen: „Knock, knock, knocking on heavens door …“. Er trug die Ballade sanft wie ein Engel vor. Das wird dem heiligen Michael gefallen haben, der hoch über dem Portal zur Kirche den Satan bezwingt. Da wird er vielleicht kurz innegehalten haben, um zu lauschen. Ich jedenfalls habe genau das getan. Das Familienfest konnte starten. Für die Kinder hatte man sich ein Programm überlegt. Sie durften auf kleinen Motorrädern lernen, wie man sich im Straßenverkehr sicher bewegt. Prima Sache und doch hat es einen Haken. Die Sprösslinge schauten mit weit aufgerissenen Augen und voller Begeisterung auf die glänzenden Chromteile. Nie waren sie einer solchen Maschine so nahe gekommen und dieses Erlebnis wird ihr Leben fortan bestimmen: „Papa, kauf mir ein Motorrad.“ Das haben die Eltern sich selbst eingebrockt. Für einen könnte sich der Wunsch erfüllen. Der Hauptsponsor des Treffens, die Firma BMW, verlost noch vor Ort ein nigelnagelneues Bike. – Ich habe auch etwas bekommen, nämlich eine Taschenbibel! Erst lehnte ich die freundliche Gabe ab, dann aber hielt ich die Idee für ganz reizvoll, Jesus stets in der Tasche dabei zu haben. Das Buch ist nicht größer als eine Zigarettenschachtel. Erst dachte ich, dass man einige Kapitel unterschlagen hätte, aber es scheint vollständig zu sein. Das ist doch der Beweis, dass es unterwegs nicht immer ein E-Buch sein muss.
Mir hat der MoGo gefallen und nächstes Jahr komme ich bestimmt wieder, dann aber erst etwas später, wenn die Show so richtig im Gange ist. Immerhin habe ich schon in diesem Monat eine zweite Chance, denn die Harley Days finden vom 28. – 30. Juni auf dem Großmarkt am Oberhafen statt. Das ist dann ja gleich nebenan. Und wenn ich mich nicht täusche, knattern sie dann sogar mitten durch die HafenCity. Ich werde meine Ohren spitzen und die Kamera stets griffbereit halten.