Was geschah in den letzten 100 Jahren in Hamburg? Welche Ereignisse machten Schlagzeilen und woran kann ich mich noch erinnern? 

 

 

1. Oktober 1978: Ende der Straßenbahn

An die Straßenbahn kann ich mich gut erinnern. Beim Haus meiner Großeltern in Alsterdorf gab es eine Endhaltestelle und dort standen fast immer mehrere Waggons. Die Fahrer und ihre Schaffner machten Pause. Am Steuer standen wohl ausschließlich Männer, den Kartenverkauf machten auch Frauen. Der Fahrschein wurde aus der tragbaren Kasse frisch ausgedruckt, indem schwungvoll die Kurbel einmal im vollen Kreis gedreht wurde. Noch mehr faszinierte mich die Münzablage. Groschen und Markstücke wanderten blitzschnell in die dafür vorgesehene Röhre. Wenn Wechselgeld benötigt wurde, konnte man auf eine Taste drücken und schon flutschte das Kleingeld unten wieder raus. Der Schaffner konnte das Ding in Windeseile bedienen und musste nicht einmal hinsehen. Der Griff saß, war über Jahre eingeübt. Eigentlich ein Vorläufer der mobilen Kassen, allerdings ohne Karte und Pin.

 

2. Oktober 1984: Barkassen-Unglück im Hafen

Die ‚Martina‘ hatte eine Geburtstagsgesellschaft an Bord. Es war früher Abend, aber die Dunkelheit hatte bereits begonnen. Der Barkassenführer übersah einen Schleppverband und kreuzte dessen Weg. Dabei wurde die Barkasse unter Wasser gedrückt und 19 Menschen kamen uns Leben. Darunter waren 11 Kinder. Der Schiffsführer gehörte ebenfalls zu den Opfern. Er hatte den Schleppverband vermutlich übersehen, weil er sehbehindert war. Damals kein Problem, denn niemand verlangte von ihm einen Sehtest zu absolvieren. Das wurde dann schnellsten verpflichtend eingeführt und noch einige andere Sicherheitsvorschriften wurden grundlegend überarbeitet. Damals galt leider oft die Regel ‚es muss erst einmal etwas passieren‘, inzwischen arbeitet man komplett anders. Die Sicherheit wird großgeschrieben und mögliche Gefahren werden frühzeitig erkannt. Das Sicherheitsmanagement muss proaktiv arbeiten und die rückläufigen Unfallzahlen beweisen, dass das sehr effizient möglich ist.

 

5. Oktober 1961: Die U-Bahn entgleist

Daran kann ich mich erinnern. Die Nachricht kam im Radio und wir konnten es kaum glauben. Solche schrecklichen Unfälle geschahen doch normalerweise in fernen Ländern, aber nun war es in Hamburg passiert und man fragte sich bange, ob womöglich ein Nachbar oder gar Angehöriger unter den Opfern war. Am Bahnhof Berliner Tor war die S-Bahn entgleist. Es war schon nach zehn Uhr abends, als die Bahn, die nach Bergedorf unterwegs war, auf einen Bauzug aufprallte. Der hatte schwere Eisenträger geladen, die sich tief in den Personenzug einbohrten. Die S-Bahn hatte immerhin ihre Reisegeschwindigkeit von ca. 60 km/h erreicht, als das Unglück passierte. Menschliches Versagen stellte sich schnell als Grund heraus, denn natürlich hätte die S-Bahn warten müssen, bis der Bauzug das Gleis verlassen hatte. Aber das Signal stand auf Grün und niemand hatte den Zugführer informiert. Er starb bei dem Aufprall und weitere 28 Personen wurden getötet. Es gab etliche Verletzte und die Rettungskräfte arbeiteten bis in die frühen Morgenstunden. Erschwerend kam hinzu, dass die S-Bahn hoch auf einem Brückendamm zum Halten kam. Man konnte also nur zu Fuß die Unfallstelle erreichen. – Jahre später hatte ich einen Kollegen, der von dem Unfall erzählte. Er war damals Passagier im Unfallzug, saß aber in einem der hinteren Waggons und war unverletzt geblieben. Die Szenen, die er damals erlebt hatte, hatten sich tief in seiner Erinnerung eingegraben. Nur selten sprach er darüber, dann aber wurden wir still und hörten gebannt zu. 

 

13. Oktober 1946: Und der Gewinner heißt …

Das war definitiv vor meiner Zeit und doch ist es eine Erinnerung wert. Im Mai 1945 hatte Hamburg kapituliert. Die Engländer besetzten die Stadt und versuchten eine demokratische Verwaltung aufzubauen. Eineinhalb Jahre später konnten bereits die ersten Wahlen durchgeführt werden. Die Hamburger hatten wieder eine frei gewählte Bürgerschaft. Heute ist das selbstverständlich und manchmal, bei schlechtem Wetter hadert man mit dem Gang zum Wahllokal. Damals konnten die Menschen es nicht abwarten, endlich wieder wählen zu dürfen. Die Briten kannten die Mehrheitswahl in ihrer Heimat und ließen nun auch die Hamburger nach dieser Regel abstimmen. Salopp gesagt gilt, ‚the winner takes it all‘. Und das war die SPD, die mit einer satten dreiviertel Mehrheit gewann. Zusammen mit CDU, FDP und vier Kommunisten zogen sie ins Rathaus ein. Max Brauer wurde erster Bürgermeister und holte auch Männer aus den unterlegenen Parteien in den Senat. Er wollte die neu erwachte Demokratie auf ein möglichst breites Fundament stellen. Bis heute hat das funktioniert und meistens hat die SPD die Nase vorn, vielleicht weil sie Kandidaten hat, die auch für das Kanzleramt taugen. Aber vielleicht ist es auch nur die gute hanseatische Tradition, die der britischen sehr ähnelt. Bloß nix Neues machen, wenn das alte noch brauchbar ist.

 

13. Oktober 1959: Ready for touch down

Am Flughafen Fuhlsbüttel, heute Helmut Schmidt Airport, landete erstmals ein Düsenflugzeug. Eine Boeing 707 der Pan Am. Zehntausende Hamburger machen sich auf den Weg, um den Vogel zu bestaunen. So wie heute regelmäßig die Kreuzfahrer der Cunard Line begrüßt werden, so gastfreundlich zeigte man sich auch schon damals. Die Menschen liefen bis auf das Rollfeld, schauten gebannt nach allen Seiten und konnten nichts entdecken. Nur eine langweilige Propellermaschine rumpelt über die Betonplatten. Der schnittige Düsenflieger war früher als geplant gelandet. Wenige Minuten später hob er schon wieder ab und flog weiter in Richtung London. Ein Reinfall für die Schaulustigen und die warfen dann erst mal ein paar Steine auf Baubuden und verschaffen ihrem Frust damit ein wenig Luft. Einziger Passagier, der in Hamburg die Boeing verließ, war der Chefpilot. Der ist wohl gleich vorn ausgestiegen, mit angelegter Trittleiter, das dauert nicht lange. Eine neue Ära beginnt, wenn auch mit angezogener Handbremse. Die Start- und Landebahn ist für die großen Flugzeuge zu kurz. Man findet einen praktischen Kompromiss. Statt voll betankt, heben die Boeing Flieger nur mit einem dreiviertel voll gefüllten Tank in Hamburg ab. Den fehlenden Kraftstoff, den sie für die Atlantiküberquerung brauchen, holen sie sich bei einem Zwischenstopp in London. Ab sofort ist Hamburg festes Ziel im Flugplan der ganz Großen.

 

19. Oktober 1999: Die Piraten kommen

Aufregung am Flughafen. Man erwartet eine Boeing 737 der EgyptAir, die in Istanbul gestartet war und eigentlich nach Kairo fliegen sollte. Daraus wurde nichts, denn ein Entführer zwang die Piloten zu einem stundenlangen Irrflug über Europa. Als der Sprit ausging, war Hamburg in Reichweite und man bat um Landeerlaubnis. Eine ganz neue Erfahrung für Polizei und Sicherheitskräfte, zum Glück. Nach der Landung spielte der Entführer verrückt. Er rannte zunächst mit einem Messer ins Cockpit, sprang dann durch die bereits geöffnete Tür auf das Rollfeld und wurde dort von einem Spezialkommando überwältigt. Niemand war zu Schaden gekommen, aber die Nerven lagen bei vielen blank. Der Grund der Entführung klingt noch immer aktuell. Der Mann, ein Ägypter, sollte aus der Türkei abgeschoben werden. In seiner Heimat fürchtete er um sein Leben. Deshalb versuchte er einen letzten Ausweg zu finden und bat mit diesem Gewaltakt um Asyl in Deutschland. Immerhin verbrachte er die nächsten sechs Jahre in Hamburg, wenn auch in einer Gefängniszelle.

 

 

21. Oktober 2010: Loki Schmidt

Eigentlich keine Überraschung, war sie doch schon 1919, ebenfalls in Hamburg, zur Welt gekommen. Ein erfülltes Leben an der Seite ihres Ehemannes und Ex-Kanzlers. Beide in Langenhorn zu Hause, wo auch meine Eltern lebten. Deshalb kenne ich die Straße und ihr Haus, wo sie wohnten, relativ gut. Aber ich hatte auch Gelegenheit, Helmut und Loki Schmidt persönlich zu begegnen. Das passierte in Bonn, während eines dreitägigen Besuches bei der damaligen SPD geführten Regierung. Es war sogar Helmut Schmidt, damals Kanzler, der mich zusammen mit dreißig anderen SPD Mitgliedern, eingeladen hatte. Am Abend in der Bonner Residenz des Hamburger Senats gab es Lachsbrötchen und kühles Bier und anschließend Gelegenheit zum munteren Schnack über dies und jenes. Mit Loki kam ich schnell ins Gespräch. Wir kannten beide das Langenhorner Raakmoor, ein Naturschutzgebiet. Sie machte dort ihre Wanderungen, weil sie stets auf der Suche nach besonderen Blumen und Gräsern war und ich machte denselben Weg wie sie, in der Hoffnung ein paar Fotos von Wildtieren zu bekommen. – Als die Nachricht ihres Todes im Radio bekannt gegeben wurde, hatten wohl die meisten Zuhörer denselben Gedanken: „Und was wird nun aus ihm?“ Inzwischen sind beide verstorben und im gemeinsamen Grab im Parkfriedhof Ohlsdorf begraben. Die Grabstelle ist so schlicht und nüchtern, wie sie sich zu Lebzeiten stets gezeigt hatten. Dazu liegt der Flecken nahe an der Straße, gleich bei einer der Bushaltestellen. Eine ungewöhnliche Lage für einen so prominenten Hamburger. Aber vermutlich haben sie es sich selbst so ausgesucht und sind ganz praktischen Überlegungen gefolgt. Friedhofsbesucher nutzen oft den Bus und wenn der Weg zur Grabstelle nicht weit ist, dann freut man sich. Besonders wenn man selbst auch nicht mehr ganz jung ist.

 

 

23. Oktober 1999: Alter Schwede

Die Fahrrinne der Elbe muss regelmäßig vertieft werden. Ebbe und Flut spülen ständig Sand und Schlick auf und das lagert sich stets an der tiefsten Stelle ab. Damit kein Schiff stecken bleibt, wird der Fluss ausgebaggert. Und dabei wurde er entdeckt. Der größte Findling aller Zeiten. Ein gigantischer Granitbrocken aus frühen Zeiten. Ein Wanderer der Eiszeit, damals bewegt vom Gletschereis, das durch das breite Urstromtal der Elbe floss. Fachleute nennen so einen Riesen Geotop, aber die Hamburger bezeichnen ihn als ‚Alter Schwede‘. Von dort ist er vermutlich gekommen und dann vor Övelgönne stecken geblieben. Seine chemische Duftmarke weist ihn als Südschweden aus, was beweist, dass er mindestens 600 km Reiseweg bewältigt hat. Vermutlich sogar deutlich mehr, denn das wäre die ideale Luftlinie zwischen seiner Heimat und dem Elbstrand. Was für ein Glück, dass die Stader von seiner Bergung nichts erfahren hatten. Sonst wäre es wohl zum Streit gekommen und sie hätten sicherlich darauf bestanden, ihn an ihrem Strand aufzustellen. Immerhin war Stade Jahrhunderte lang unter schwedischer Herrschaft und damit irgendwie näher am Findling als wir.

 

31. Oktober 1986: Ahoi!

Die Cap San Diego ist wieder in Hamburg. Bisher war sie ein Stückgutfrachter unter vielen, nun wird sie das größte betriebsfähige Museumsfrachtschiff der Welt. Ungeahnte Zukunft, da wird man alt, brüchig und plötzlich doch noch richtig berühmt. Die Cap San Diego kann fahren und tut es auch. Einer meiner Wünsche, ganz oben auf der Liste, ist ein Tag an Bord des Schiffes. Vielleicht nach Helgoland oder wenigstens ein Stück elbabwärts. Mal sehen, vielleicht klappt es schon im nächsten Sommer? Vorher kann man ja schon mal einen Besuch an Bord machen und sich ein wenig einfühlen. Das Schiff hat Stückgut transportiert, das kann vom Kaffeesack bis zum lebenden Elefanten alles Mögliche sein, was man nicht in einen Container sperren will. Zum Be- und Entladen hat sie eigenes Ladegeschirr an Bord und kann deshalb auch kleiner Häfen anlaufen, wo die Kaianlagen keine Kräne haben. Gebaut wurde sie von der Deutschen Werft in Hamburg und nun ist sie längst fester Bestandteil des Hafens. Den Stapellauf erlebte das Schiff 1961, schon damals unter dem heutigen Namen. Die erste Reise ging gleich einmal um die Welt, erst die USA und dann nach Australien. Später fuhr sie regelmäßig nach Südamerika und wurde wegen der eleganten Form und des weißen Anstrichs würdevoll als ‚weißer Schwan des Südatlantiks‘ bezeichnet. Ein romantischer Name für ein Schiff, dessen Laderäume oftmals randvoll mit Kühlfleisch gefüllt waren. Die Cap San Diego verfügte über eine Kühlvorrichtung und eignete sich deshalb hervorragend für den Transport von Fleisch und Obst. 

Dann kam aber starke Konkurrenz durch den vermehrten Einsatz von Containern. Für die Cap San Diego sah es düster aus, ihr drohte die Verschrottung. In ziemlich desolaten Zustand lag sie vor Cuxhaven, als die Rettung nahte. Freiwillige Mitarbeiter richteten sie notdürftig her, sodass sie die Strecke bis Hamburg schaffen konnte. Dort wurde das Schiff dann mit viel Fleiß und Arbeit zu einem Museumsschiff umgebaut. Schließlich wurde sogar die Zulassung für Passagierfahrten erneuert und jetzt kann der stolze Schwan wieder in See stechen und begeisterte Passagiere einen unvergesslichen Urlaubstag bescheren.

 

Und was passierte sonst noch?

Meine Oma hatte im Oktober Geburtstag und das war jedes Jahr der erste Tag im Herbst, um die warmen Kniestrümpfe zu tragen und den Wintermantel anzuziehen. Wir bekamen zwar selten neue Kleidung, aber der Wechsel von der Sommer- in die Winterkleidung, war stets eine aufregende Sache.

Ich glaube, es war auch im Oktober, wenn wir abends zum Laterne laufen starteten. Ich mochte es nicht. Weder das kalte Wetter, noch die Dunkelheit und schon gar nicht das Singen. Wie peinlich, denn ich war nicht gut im Singen. Meine Mutter merkte schnell, dass ich mich dabei nicht wohlfühlte. Sie ließ sich eine neue Regel einfallen, die mir viel besser gefiel. Statt draußen herum zu stiefeln, durfte ich ins warme Bett kriechen und noch eine Weile wach bleiben. Die Laterne mit der brennenden Kerze wurde am Kleiderschrank befestigt und der Schein ihres flackernden Lichtes wanderte geheimnisvoll über die Zimmerdecke. Dazu leise Musik aus dem Radio. Viel besser als draußen in der Kälte herumzulaufen – danke Mum.

Seit ich fotografiere, und damit habe ich erst als Rentnerin ernsthaft angefangen, interessiere ich mich auch für die Natur. Regelmäßige Spaziergänge im Duvenstedter Brook wurden mir zur lieben Gewohnheit. Und da wird es im Oktober ziemlich laut und munter. Dann beginnt nämlich die Brunft der Rotwildhirsche. Ein ‚röhriges‘ Spektakel, das viele Zuschauer anlockt. Schon ganz früh, in der Dämmerung, stehen die Naturfreunde am Wiesenrand und starren in den Frühnebel, der über der weiten Wiesenlandschaft wabert. Man kann keinen Meter weit sehen, aber man hört das dröhnende Brummen der Hirsche und manchmal sogar ihren heiseren Atem. Sie stehen also nicht weit entfernt und jeder kann nur hoffen, dass sie nicht plötzlich losrennen und uns alle über den Haufen werfen. Denn während der mehrwöchigen Brunft werden die Hirsche ausschließlich von ihren Hormonen gesteuert, da ist jede Vorsicht ausgeschaltet. Ich muss es mir nicht jedes Jahr ansehen bzw. anhören, aber einmal sollte man es erlebt haben. Am besten gleich nach Sonnenaufgang, mitten in der Woche, vielleicht bei Nieselregen. Dann kann es sein, dass man ganz alleine dort steht und dann vergisst man Zeit und Raum.

 

Meistens wenn man es nicht erwartet, taucht plötzlich ein kapitaler Hirsch auf. Dieser kreuzte meinen Weg zur Mittagszeit. Er hatte einige Hirschkühe gewittert und nahm mich deshalb gar nicht wahr. Gesehen im Duvenstedter Brook.