Ein Orkan zieht über Norddeutschland hinweg. Für den Hamburger Hafen wurde eine Sturmflutwarnung herausgegeben. Am Freitagabend ist der Altonaer Fischmarkt überflutet. Das passiert regelmäßig und ist deshalb kein Grund zur Sorge. Die Barkassenbetreiber machen sich lustig und rufen: „Haaaafenrrrrrundfaaaaaahrt, heute mit Fischmarkt!“ Aber diesmal soll es schlimmer kommen. Nachts jagt der Wind über die Elbe und am nächsten Vormittag wird ein Pegelstand von über 4,65 über NHN (Normal-Höhen-Null) erwartet. Das ist die amtliche Schwelle, um eine ’normale‘ Sturmflut zu einer ’schweren Sturmflut‘ aufzustufen. Ich bin gespannt, ziehe mich warm und vor allem regen tauglich an und packe die Kamera ein. Meine erste Sturmflut ist da und ich bin ziemlich aufgeregt.
Es ist schlimmer, als ich dachte. Es ist nicht alleine die ungewohnte Höhe des Wasserspiegels, sondern vor allem die Geschwindigkeit, in der das Wasser steigt. Später zum Glück auch wieder fällt. Das hatte ich nicht erwartet, aber in Hamburg weiß man es und hat nach der verheerenden Flutkatastrophe im Jahr 1962 vorgesorgt. So kommt es, dass ich am Samstagmorgen von Sirenengeheul wach werde. Schon vorher hatte ich einen Böllerschuss gehört, der ebenfalls zum Vorwarnsystem gehört. Die Bevölkerung soll geweckt werden und wissen, dass Gefahr droht. Gleichzeitig mit der Sirenenwarnung tritt der Katastrophenstab zusammen. Ab sofort gilt Ausnahmezustand. Die Flut kann kommen.
Noch am späten Vorabend war ich am Dalmannkai und sah, wie die Wellen über die Kaimauer leckten. Es war kurz vor Hochwasser und der Anblick war mir vertraut. Zu dem Zeitpunkt konnte ich noch problemlos am Kai entlanggehen. Jedoch heute Morgen, kurz vor der nächsten Flutwelle, sah das ganz anders aus. Der Dalmannkai war versunken. Die Treppen führten in die Elbe. Der Fähranleger vor der Elphi war für Fußgänger nicht mehr erreichbar. Was ich auch unterschätzt hatte, war der Wind. Sobald ich ungeschützt am Ufer der Elbe stand, musste ich aufpassen, nicht umgeweht zu werden. Das hätte ich nicht für möglich gehalten, aber selbst Übergewicht hilft nicht. Man wird zum Spielball der Naturkräfte.
Vor meiner Haustür war also alles in Ordnung, aber in der Speicherstadt wird es anders aussehen. Dort konnte das Straßenniveau nicht künstlich erhöht werden; es liegt deutlich tiefer als auf den neuen Flächen. Erst einmal musste ich aber überlegen, wie ich dort hinkommen kann. Über den Kaiserkai ging es nicht, denn der wurde vorsorglich gesperrt. Ich erinnerte mich an die Pläne, die ich beim Einzug in die HafenCity studiert hatte. Auf ihnen waren die Fußgängerwege verzeichnet, die auf jeden Fall sicher wären. Und diese Wege würden mich direkt an der Speicherstadt vorbeiführen. Vorher muss ich aber den Sandtorhafen überqueren, was nur noch an seinem Kopfende, bei den Magellan Terrassen möglich war.
Auf dem Weg kommen mir mehr und mehr Leute entgegen, die, genau wie ich, staunend das Naturschauspiel verfolgen. Viele von ihnen sind Touristen, die anfangs ängstlich wirken, dann aber begreifen, dass sie die einmalige Gelegenheit haben, Fotos fürs Leben zu machen. Schon bald beginnen sie mit munteren Video-Übertragungen und merken oft zu spät, dass die Füße nun doch vom kalten Elbwasser überspült werden. Die Straße ‚Am Sandtorkai‘ steht an vielen Abschnitten bereits unter Wasser. Die Anwohner kennen es, sie reagieren gelassen. An der Südseite der Straße stehen Neubauten, deren Erdgeschoss wasserdicht gebaut wurde. Auf der Nordseite befinden sich die alten Speicher, die zum Weltkulturerbe zählen. Dort darf niemand wohnen, aber arbeiten. Und wer sich dafür entschieden hat, muss sich mit der Flut arrangieren. Wie es geht, wissen die vielen Generationen, die dort ihren Arbeitsplatz hatten. Ich hoffe, jemanden zu finden, der es mir einmal erzählen kann.
Angst empfinde ich nicht. Mir scheint alles einwandfrei organisiert zu sein. Überall sieht man Einsatzkräfte der Feuerwehr und der Polizei. Sie strahlen Ruhe aus und helfen weiter. Besucher fragen nach, wenn sie sich verlaufen hat. Das Hochwasser erreicht am Vormittag seinen Scheitelpunkt, der 5,45 über NHN beträgt. Ein beachtlicher Wert, den man nicht erwartet hatte und doch souverän meistern kann. Ein Nachbar sagt mir, dass ab acht Meter die Sache gefährlich wird, aber diese Höhe wäre noch nie erreicht worden. Inzwischen klingt das leider nicht mehr beruhigend, denn jedes Naturereignis in den letzten zwanzig Jahren, stellte einen Rekord auf. Jahrhundertfluten und -stürme finden inzwischen regelmäßig statt. Trotzdem bin ich zuversichtlich, den Untergang der HafenCity nicht noch selbst zu erleben. Das hat aber ausschließlich mit meinem Alter zu tun. Eine andere Sache hat mir allerdings schon heute Furcht gemacht und das war der Wind. Der erreicht im Hafen viel höhere Geschwindigkeiten als in den anderen Stadtteilen. Wenn er über die Elbe heranbrausen kann und durch eine Häuserlücke in voller Wucht zuschlägt, dann kann es einen glatt umwerfen. Meine Angst galt herumfliegenden Teilen. Sollte eine Latte oder ein Schild abreißen und einen am Kopf treffen, dann könnte es schlimme Folgen haben. Und deshalb habe ich dann auch zugesehen, wieder nach Hause zu kommen, wo es warm und sicher ist. Und während ich diesen Beitrag schrieb, ertönten erneut die Sirenen. Diesmal war es ein gleichbleibender Ton, eine Minute lang, der Entwarnung signalisierte. Die Show ist vorbei, in wenigen Stunden erleben wir die Ebbe und das Hochwasser am späten Abend wird im relativ normalen Bereich erwartet. Als ich wenig später beim Italiener esse und danach am Kaiserkai entlanggehe, sind die Uferränder schon wieder aufgetaucht. Touristen gehen am Wasser entlang und haben vielleicht keine Ahnung, dass dort vor zwei Stunden noch die Elbe entlang floss. Nur die nassen Pflastersteine geben einen letzten Hinweis.