Mit großer Verspätung erreicht uns der Herbst. Von einem Tag auf den nächsten stürzen die Temperaturen und pendeln sich auf normale Oktoberwerte ein. Nachts fallen die Temperaturen in den einstelligen Bereich und tagsüber erreichen wir die zehn Grad Marke nur mit Glück. Macht nix, mir gefällt es. Ich ziehe die Abwechselung stets der Monotonie vor und deshalb genieße ich auch die Jahreszeiten. Immer wieder und in allen Variationen. Der Herbst kam mit einem Sturmtief über die Nordsee herangebraust. So gehört es sich auch. Es gibt nämlich eine amtlich festgelegte Sturmtiefsaison. Sie beginnt am 15. September und endet am 31. März. Also zeitlich fast ein Zwilling der Winterreifen-Saison.
Die Hamburger kennen stürmisches Wetter und können damit gut leben. Allerdings habe ich noch nie eine Sturmflut vor Ort, also im Hafen, erlebt. Solange ich in den gemütlichen Vororten wohnte, blieb ich schön zu Hause und verfolgte die Lage im Radio. Wenn man aber in der HafenCity lebt, die übrigens VOR (!) dem Deich zu finden ist, dann wird man neugierig. Vorsorglich hatte ich mich schon bei Einzug informiert, wo die sicheren Stege zu finden sind. Oder auch darüber, wie die Bewohner gewarnt werden, u.a. mit Böllerschüssen auf den Landungsbrücken. Und den baulichen Flutschutz hatte ich mir auch schon genauer angesehen. Aber wie bereits erwähnt, liegt die HafenCity zwischen Flutschutz und Elbe. Aus guten Grund hat man auf einen Deich verzichtet, denn dann würden wir alle gegen eine acht Meter hohe Wand schauen. Stattdessen wurden Straßen und Häuser auf Warften gebaut. Der Rest, bereits vorhandene Straßen, die Gebäude der Speicherstadt und andere Ecken, laufen im Fall des Falles voll Wasser. Neue Gebäude haben einen wasserdichten Sockel mit flutsicheren Toren. Dahinter sind oft Keller, Parkplätze oder auch Lagerräume versteckt.
Ganz unvorbereitet war ich also nicht. Was ich mir aber nur schwer vorstellen konnte, war die gewaltige Flutwelle, die im Fall des Falles in den Hafen fließt. Mitgebracht von der Elbe und dem steifen Nordwest-Wind. Schaut man sich die Kais an den alten Hafenbecken an, dann ist da selbst bei Hochwasser immer noch sehr viel Platz bis zur Kante. Kann das Wasser wirklich so viel höher steigen, dass es schließlich überschwappt? Oder sogar überlaufen und ins Hinterland eindringen? Es kann, und das sogar bei relativ moderaten Verhältnissen.
Gestern war es so weit. Dem Hafen drohte eine Sturmflut. Keine große, kein Land unter, aber nasse Füße waren möglich. Was mir tatsächlich gelang. Das Abendhochwasser wurde gegen sechs Uhr erwartet und sollte knapp 4 Meter hoch auflaufen. Jetzt müssen wir kurz akademisch werden, denn es gibt mehrere Bezugssysteme und alle Angaben machen erst dann Sinn, wenn man weiß, wo die Null-Linie verläuft. Sie ist der Dreh- und Angelpunkt und wird amtlich als ‚Normalhöhennullpunkt‘ (NHN) bezeichnet. Er entspricht dem geologischen Nullpunkt an Land. Ein ’normales‘ Hochwasser (genannt MThw = mittleres Tidehochwasser) liegt bei + 2,15 m und das ’normale‘ Niedrigwasser‘ (MTnw) bei – 1,66 m. Wenn das mittlere Tidehochwasser um 1,50 m überschritten wird, spricht man von einer Sturmflut. Ab 2,50 m von einer schweren Sturmflut und ab 3,50 m von einer sehr schweren Sturmflut. Der höchste Pegelstand, den man in Hamburg St. Pauli gemessen hat, betrug 6,45 über NHN. Das waren also 4,30 m über normalen Tidehochwasser.
Gestern war der Wasserstand weit darunter, aber mit + 1,82 m über dem MThw immerhin im unteren Bereich einer Sturmflut. Es stürmte schon den ganzen Tag und immer wieder prasselten Regenschauer nieder. Meine Lust nach draußen zu gehen war deshalb nur gering. Aber dann brach die Wolkendecke auf und die Sonne kam kurz zum Vorschein. Meine Neugierde siegte. Ich packte meine Fototasche und zog mich an. Eine wasserfeste Jacke hatte ich im Schrank, aber das passende Schuhwerk fehlte mir. Kurz überlegte ich die gut imprägnierten Winterstiefel anzuziehen, entschied mich dann aber für die bequemen Schuhe und packte vorsorglich einen Taschenschirm ein. Beides waren krasse Fehlentscheidungen.
Einige wackere Touristen trotzen dem stürmischen Wetter, die meisten hatten sich aber längst einen warmen Platz in den Restaurants und Cafés entlang der Elbe gesucht. Ich folgte dem kürzesten Weg zum Elbstrom, indem ich eine Treppe nutze, die mich vom Straßenniveau runter auf den alten Dalmannkai führte. Dort war noch alles trocken. Aber auf den Treppenstufen zum kleinen Park, stand bereits das Wasser. Noch drückte die Flut hinein, der Wasserspiegel würde also noch ansteigen. Aber schon jetzt war die Uferkante erreicht. Erste Wellen schwappten über und bildeten große Pfützen. Einige Bäume standen bereits unter Wasser, was man aber bei der Auswahl der Sorten berücksichtigt hatte. Sie können die Nässe für einige Tage gut aushalten. Andere Sorten würden Schaden am Wurzelwerk zu nehmen.
Ich ging in Richtung der Elbphilharmonie, weil ich noch einen Blick in das nächste Hafenbecken werfen wollte. Es liegt am Kaiserkai und ist Ankerplatz für kleinere Motorboote und Segelschiffe. Der kleine Hafen liegt in west-östlicher Richtung und öffnet sich an seiner schmalen Seite auf ganzer Breite zur Norderelbe. Das heißt also, dass die Flut ungehindert und mit voller Kraft in das Becken eindringen kann und das wollte ich mir mal ansehen. Früher war der Sandtorhafen ungefähr einen Kilometer lang, heute nur noch knapp die Hälfte. Man hat den östlichen Teil zugeschüttet, um Platz für die Häuser der HafenCity zu haben. Die Magellan Terrassen bilden den neu geschaffenen östlichen Abschluss. Eine aufwendige Treppenanlage, mit breiten Betonstufen und vielen Holzmöbeln, zum Sitzen oder auch Liegen. Es sieht hübsch aus und lädt Touristen und Besucher zum Verweilen ein. Der eigentliche Zweck ist aber ein anderer. Diese terrassenartigen Treppen dienen zum Schutz vor Hochwasser. Sie sind eine optisch anspruchsvoll gemachte Flutmauer. Eine smarte Lösung, die man überall in der HafenCity findet.
Der Sandtorhafen war wirklich bis zum Stehkragen gefüllt. Man sah es überdeutlich an der Straßenbrücke, unter der kaum noch Platz war. Und man sah es noch deutlich am anderen Ende, wo die ersten Stufen der Magellan Terrassen längst überflutet waren. Ich machte ein paar Fotos, dann setzte Regen ein. Ebenso plötzlich wie heftig. Ich fand vor einem Restaurant einen großen Sonnenschirm, der mir Schutz bot. Zum Glück waren es nur noch wenige Meter bis zu meiner Wohnung, da hatte ich es deutlich besser als die meisten anderen. Trotzdem wollte ich lieber meinen mitgebrachten Regenschirm auspacken und dann sollte der kurze Heimweg trocken gelingen. Das klappte auch, bis ich an die Ecke eines Hauses kam. Dort war eine der vielen breiten Sichtachsen, die man eingeplant hatte, damit möglichst viele Bewohner einen freien Blick auf die Elbe werfen können. Diese Schneisen werden geliebt, solange das Wetter schön ist. Sobald aber der Sturm über den Fluss braust, werden sie zu einer körperlichen Herausforderung. Regen und Wind kommen hier mit solcher Geschwindigkeit um die Ecke, dass man sich wie in einer riesigen Waschanlage fühlt. Mein Schirm gab schlagartig auf und flatterte hilflos mit überspreizten Gelenken im Wind. Meine Kapuze war mir vom Kopf gerutscht und ein Schwall Regenwasser durchtränkte die Schuhe binnen von Sekunden. Es half nichts, da musste ich durch und obwohl es nur noch wenige Meter bis zur Haustür waren, wusste ich, dass ich nass bis auf das Unterfell ankommen würde. Zum Glück hatte ich den Fotoapparat rechtzeitig in meiner wasserdichten Tasche verstaut, da konnte nichts passieren. Ich kniff also die Augen zusammen und marschierte tapfer gegen den Wind. In den Hauseingängen drängten sich Touristen, die dort ausharrten, bis die Wetterkapriolen vorbeigezogen waren. Ich ging so schnell ich konnte und hätte fast Stefano übersehen, der im Eingang seines italienischen Restaurants gemütlich einen Zigarillo rauchte. „Saluti. Come va?“, begrüßte er mich und setzte das netteste Lächeln auf, dass man sich vorstellen kann. Stefano bringt nichts aus der Ruhe und er würde mich auch niemals übersehen. So viel Zeit nimmt er sich immer, alles andere wäre grob unhöflich in seinen Augen. Er gehört zu den Menschen, die einem stets das Gefühl geben, man wäre der wichtigste Gast in seinem Lokal. Also blieb ich stehen, denn seine fröhliche Stimmung ist ansteckend. Wir fanden tatsächlich die Zeit ein paar Worte zu wechseln, aber das raue Wetter schubste mich dann doch weiter. Zu Hause zog ich alles aus, was nass war. Hose, Socken und sogar den Pullover. Schnell wechselte ich in warme Sachen und setzte dann erst einmal den Kessel auf. Das haben mir die Engländer beigebracht. Egal wie hoffnungslos die Lage ist, man wird sich besser fühlen, sobald einer sagt: „I’ll put the kettle on“. Der Tee war schnell gemacht und wärmte mich innerlich wohlig auf. Das Leben war wieder perfekt.