Das Wetter ist schön, die Sonne scheint und ich habe Zeit. Also los, raus an die Luft für einen Spaziergang. Als Startpunkt habe ich mir den Stephansplatz ausgesucht und muss nun erst einmal entscheiden, ob ich durch die Neustadt laufe oder lieber gleich in ‚Planten un Blomen‘ einbiege. Die Option ist verlockend, denn gerade im Herbst sieht das verfärbte Laub besonders attraktiv aus. Nach kurzem Zögern bleibe ich meinem Plan treu und lasse den Park links liegen. Den schreibe ich gedanklich ganz oben auf meine Wunschliste für den nächsten Fotoausflug. Bevor ich starte, werfe ich erst einmal einen Blick auf den Dammtor-Bahnhof. Eine Maßanfertigung für den Kaiser, der regelmäßig in Hamburg Station machte, wenn er auf dem Weg in den Sommerurlaub war. Der fand auf der Ostsee statt, auf seiner Jacht, die in Kiel wartete. In Hamburg wurde Zwischenstation gemacht. Man zeigte sich den Untertanen, die jubelnd reagierten. Dann ein Besuch bei Freunden, gerne beim Reeder Ballin und abends nach dem Theaterbesuch noch ein Getränk in der Bar. Das hätte man auch mit An- und Abreise am Hauptbahnhof machen können, wenn der nur ein wenig höher liegen würde. Die Vorstellung, dass der Kaiser die Treppen aus einem Tunnel hochsteigt, war undenkbar. Also musste ein neuer Bahnhof her, diesmal mit Gleisen hoch über dem Straßenniveau. So konnte die kaiserliche Familie gnädig zum Volk herabschauen und dann die Stufen würdig von oben nach unten beschreiten.
Vermutlich wartete direkt vor dem Bahnhof eine Kutsche auf den Besucher, denn es wäre gar nicht gut gewesen, wenn er sich zu Fuß auf den Weg gemacht hätte. Vielleicht in dieselbe Richtung wie ich, denn am Jungfernstieg stand eines der prächtigsten Hotels der damaligen Zeit. Dann wäre der Kaiser womöglich am Gängeviertel vorbeigekommen und das wäre unzumutbar gewesen. Die Gängeviertel waren Slums für Menschen mit wenig Geld. Dazu zählten die Arbeiter. Sie lebten, oder korrekter gesagt hausten, in kleinen, schäbigen Wohnungen ohne Wasser und ohne Heizung. Eigentlich auch ohne Licht, denn die Gassen waren eng und die Häuser hoch. Es gab mehrere dieser Viertel. Ein besonders großes im Hafen, dort, wo später die Speicherstadt gebaut wurde. Ein anderes war nahe an der Michaeliskirche, und das Letzte, das sich am längsten hielt, war hier in der nördlichen Neustadt, zwischen Valentinskamp und Speckstraße. Am Bäckerbreitergang sind einige Häuser stehen geblieben, alles andere wurde abgerissen und das ist auch gut so.
Die Straßenzüge blieben erhalten, auch ihre bildhaften Namen. Man vermutet, dass im Bäckerbreitergang Schweinställe zu finden waren, die den umliegenden Bäckern gehörten. In der Speckstraße kam das fettige Fleisch sicherlich selten auf die Teller, denn die Bewohner waren arm und machten sich oft des Diebstahls schuldig. Vermutlich geschah es aus Not und war eher ein Mundraub. Der Grund für den Straßennamen könnte ein ganz banaler sein, nämlich die Tatsache, dass das Land einem Mann mit dem Namen ‚Speck‘ gehörte. Die Winckelstraße wurde nach einem Hamburger Bürgermeister benannt, nachdem sie vorher Ulricusstraße geheißen hatte. Das hatte mit der Bastion Ulricus in der Wallanlage zu tun, aber bekannt war die Straße für die Prostitution, die dort gewerbemäßig stattfand.
Ich verlasse das ehemalige Gängeviertel und biege in die ABC-Strasse ein, die mich zum Gänsemarkt führt. Wieder so ein merkwürdiger Name und natürlich gibt es auch für diese Wahl eine Erklärung. In der ABC-Strasse hat man ein neues System ausprobiert. Die Häuser wurden nicht nummeriert, sondern nach den Buchstaben des Alphabets benannt. Wahrscheinlich merkte man schnell, dass das limitiert ist. Das 26. Haus wird dann mit ‚X‘ bezeichnet und damit ist Feierabend.
Der Gänsemarkt ist ein erstaunlich weitläufiger Platz. Ein Knotenpunkt des Verkehrs und in der Weihnachtszeit ein beliebter Ort für einen stimmungsvollen Markt. Ansonsten passiert dort nicht viel. Mitten auf dem Gänsemarkt sitzt Lessing auf einem Stuhl und schaut aufmerksam auf die Menge, die um ihn herumwuselt. Er hält ein Buch in der Hand. Wahrscheinlich wurde er gerade beim Lesen gestört. Wenn es ruhiger wird, was frühestens am späten Abend zu erwarten ist, wird er weiterlesen. Früher hieß der Ort ‚Beim Isern Hinnerk‘, dann wurde daraus irgendwann ‚Gänsemarkt‘. Warum man den Namen wählte, weiß man nicht. Eines ist aber sicher, dort wurden niemals Gänse verkauft.
Eigentlich könnte ich direkt vom Gänsemarkt in den Jungfernstieg einbiegen, aber ich wähle den kleinen Umweg über die Colonnaden. Die Straße ist inzwischen zur Fußgängerzone umgewandelt und deshalb eine entspannte Wegstrecke in dieser Gegend. Ein Säulengang an einer der beiden Straßenseiten dominiert den Anblick der Häuser. Viele Restaurants und nette kleine Geschäfte sind hier zu finden. In den Schaufenstern finden sich Dinge, die man woanders kaum noch findet. Ein Bummel bietet sich an. Dann sehe ich auch schon die Alster und mein Ziel, den Jungfernstieg. Der ist seit Monaten eine Großbaustelle und man kann nur hoffen, dass sich der Aufwand lohnt. Es wäre doch schön, wenn sich künftig die Besucher nicht nur am Alsterufer einen Platz suchen, sondern das machen, was Generationen schon taten: Auf dem Jungfernstieg flanieren und dabei den einen oder anderen Augenkontakt wagen.