Ich habe eine Straßenkarte von London gefunden, die vor fast zweihundert Jahren erstmals erschienen ist. Sie wurde von G.F. Chruchley gezeichnet, gedruckt und verkauft. Er hatte sein Geschäft in der Fleet Street, im Haus Nr. 81. Das ist gleich rechts neben der St Bride’s Church, gegenüber vom Peterborough Court und zurzeit eine Großbaustelle. Seine Karte ist sehr genau, zeigt viele interessante Details. Sie ist viel zu groß, um sie hier abzubilden, aber ein stark verkleinerter Ausschnitt vermittelt einen Eindruck.
Auch wenn die Straßennamen nicht zu lesen sind, erkennen Ortskundige sofort ihre Stadt. Links der Green Park, der nahtlos in den St James’s Park übergeht. Dort erwarten wir den Buckingham Palace und er ist auch schon auf dieser Karte eingezeichnet. Dann die Themse von der Westminster Bridge bis zum Tower of London. Dessen Brücke fehlt noch, denn sie wurde erst sehr viel später gebaut. Das ist für Touristen immer wieder eine Überraschung, denn viele glauben, der Tower und die Brücke sind ein zusammengehöriges Bauwerk. Weit gefehlt, der Architekt hat es einfach sehr geschickt arrangiert.
Der dunkle Fleck in der Mitte der Karte ist die St Paul’s Cathedral, links davon die Lincoln Inn Fields und rechts davon die City of London. Nun schauen wir es uns mal etwas genauer an und dafür habe ich Teile vergrößert. Fangen wir links, beim Buckingham Palace an. Der sah 1826 so aus:
Und damit wird es interessant, denn dem Palast fehlt etwas, was wir heute mit ihm identifizieren. Er hat weder den berühmten Balkon noch den Ostflügel, der das Haus zum St James’s Park hin abschirmt. Tatsächlich wurde dieser Teil erst später angebaut, weil die königliche Familie schon damals unter mangelnder Privatsphäre gelitten hat. Sonntags kamen die Leute vorbei und konnten bis in den privaten Innenhof gehen. Das wurde durch den Anbau unmöglich gemacht. Die Idee mit dem Balkon ist natürlich grandios, denn noch heute sind es besondere Augenblicke, wenn die Royals dort oben winkend stehen. Auf dem Balkon stehend, hat die Queen am Abend ihres Thron-Jubiläums 2022 von uns allen Abschied genommen, das Bild wird vielen Menschen in Erinnerung bleiben.
Folgen wir der Straße Guard Horse (heute: Birdcage Walk) am Südrand des Parks, dann sind dort bereits die ‚New Barracks‘ eingezeichnet. Noch heute sind in dem Gebäudekomplex die Soldaten und ihre Pferde, die wir vormittags beim Wachwechsel bestaunen, stationiert. Die Kaserne heißt inzwischen ‚Wellington Barracks‘. Am Straßenbild hat sich kaum etwas verändert. Markante Gebäude wie die Westminster Abbey oder den Westminster Palace gab es schon damals vor gut zweihundert Jahren. Und auch die Westminster Bridge war bereits fertiggestellt, denn der kurze Weg zum Bahnhof Waterloo war wichtig.
Folgen wir der Themse, indem wir Strand und Fleet Street entlanggehen. Da hat sich wenig verändert. Die Waterloo und die Blackfriars Bridge sind bereits eingezeichnet. Natürlich fehlen die modernen Fußgänger-Brücken, wie die Milleniums Bridge oder die Hungerford Bridge. Aber das sind eher städteplanerische Kleinigkeiten. Auch hier sind die großen Häuser noch heute vorhanden: Das Somerset House, der Temple Bezirk rund um die Kirche und natürlich die St Paul’s Cathedral. Dann aber, auf den zweiten Blick, erkennt man massive Abweichungen zwischen damals und heute. Das Südufer der Themse war 1826 noch unbebaut. Dort, wo heute die Touristen sich drängen, nämlich rund um das London Eye und vor dem Southbank Centre, war damals Ödland. Dort standen schmutzige und stinkende Fabriken, die die Ware aus den Schiffen bearbeiteten. Man liest Namen wie Iron Foundry, Lambeth Water Works und Patent Shot Manufactury. Viele Anlegestellen tragen die Bezeichnung ‚Stairs‘ im Namen. Es handelte sich tatsächlich um Stufen, die zum tieferliegenden Fluss hinabführten. Bei Ebbe fällt der Wasserspiegel um bis zu sechs Metern.
Noch größer ist der Unterschied zu heute am Nordufer zu sehen. Vielleicht fällt es nicht sofort auf, aber damals, vor zweihundert Jahren, fehlte das Victoria Embankment. Die Straße zieht sich heute am gesamten Nordufer entlang, von Westminster bis Waterloo Bridge. Und es ist weit mehr als nur eine Straße, denn unter den Fahrbahnen sind mächtige Entwässerungskanäle untergebracht und zwei Tunnel für die U-Bahn. Wirklich revolutionär war aber der Eingriff in den Flusslauf. Die Themse hat gut 15 Meter an Breite verloren, um Platz für das Victoria Embankment zu schaffen. Und dadurch hatten die Grundstücke an der Südseite vom Strand auf einmal keinen Zugang mehr zum Fluss. Die York Buildings Stairs sind noch heute vorhanden, stehen aber mitten im Park. Die Anlegestellen Duchy Wharf und Savoy Wharf sind verschwunden, nur die gewaltigen Gebäudekomplexe haben die Zeit überstanden (Königliche Verwaltung und 5-Sterne-Hotel). Dasselbe gilt für die Adelphi Wharf, wobei die gleichnamigen Häuser noch immer zu finden sind, wenn auch nur allerletzte Reste im Original.
Folgen wird der Themse flussabwärts, dann kommt der Tower of London in Sicht. Oben, in der Mitte der Karte, sehen wir die City of London. Dort hat sich rein gar nicht geändert, obwohl man inzwischen wohl mehr als zwei Dutzend Wolkenkratzer in die winzigen Baulücken gestellt hat, die sich immer mal ergaben. Die Silhouette ist dadurch völlig neu erschaffen worden und das auch erst in diesem Jahrhundert, aber das Straßenbild ist identisch geblieben. Vermutlich sah es zur Zeit der Römer auch nicht anders aus. Wir sehen die Bank of England und die bedeutenden Adressen, wie Cheapside, Cornhill oder Leadenhall Street. Von dort zweigt St Mary Axe ab, die Adresse der Londoner Familie Isaac Solly (Baltic Trade). Wenn ihre Handelsschiffe wertvolle Ware aus dem Baltikum brachten, hatten sie es nicht weit. Sie konnten zu Fuß zum Steelyard gehen, der der Hanse gehörte und unter eigener Verwaltung stand. Der Hafen ist rechts neben der Southwark Bridge zu finden, etwas versteckt oberhalb des großen Buchstaben ‚H‘.
Das Südufer war an dieser Stelle schon damals dicht bewohnt. Hier wohnten Hafenarbeiter und man zählte viele billige Kneipen. Die Prostitution wurde hier offen angeboten und die grausamen Hahnenkampf-Arenen waren ein beliebter Ort, um eine schnelle Wette abzugeben. Sogar Hunde hetzte man auf Bären und junge Männer schlugen für wenig Geld mit nackten Fäusten aufeinander ein. Schwere Verletzungen, bis hin zum Tod, nahm man schulterzuckend in Kauf. Eine wilde Gegend, voller Leben, voller Elend und Armut. Aber auch Abenteuer. Vermutlich lebte Charlie Chaplin hier als Kind. Reiche Londoner Gentlemen, die eigentlich in Westminster wohnten, kamen gerne mal für einen Abend hier her, um sich in der Anonymität auszutoben.