Der Zollkanal

Es wird Zeit für mich, meine Heimatstadt neu zu entdecken. Als Kind fuhr meine Mutter manchmal mit mir in die Stadt. Es passierte nicht oft, denn das Geld war knapp. Wenn ich mal wieder aus meinen Sachen herausgewachsen war, bekam ich erst einmal die alten Kleider meiner großen Schwester, bevor etwas Neues gekauft wurde. Wenn es dann aber doch nötig wurde, dann war das stets ein großes Ereignis für uns alle. Wochenlang fieberte ich dem Ausflug entgegen. Ich fand die Stadt aufregend und prägte mir jedes Detail ein. Noch heute kann ich diese Bilder abrufen, sie sind wie Fotografien im Gedächtnis gespeichert. Und das ist gut so, denn die Realität sieht inzwischen ganz anders aus. Kein Wunder, ich spreche von einer Zeit, die fünf Jahrzehnte her ist. Natürlich war ich zwischenzeitlich immer mal wieder in der Hamburger City, aber ehrlich gesagt ziemlich selten. Und deshalb wird es für mich höchste Zeit, das Versäumte nachzuholen. Nicht nur, dass ich inzwischen groß und vor allem alt geworden bin, sondern auch Hamburg hat eine beachtliche Entwicklung durchgemacht. Meine frühesten Erinnerungen reichen bis Ende der Fünfzigerjahre zurück und da waren die Spuren des Krieges noch an jeder Ecke sichtbar. Und zwar nicht nur an den Häusern, sondern auch an den Menschen. Das ist inzwischen alles überwunden und ich bin gespannt, wie Hamburg heute, -im Jahre 2017-, aussieht. Meine erste Tour soll mich an der Speicherstadt entlang führen.

Die Speicherstadt ist wortwörtlich Hamburger Urgestein. Gebaut wurden die Backsteinhäuser so um 1888, denn da wurde der Zollanschluss an das Deutsche Reich rechtskräftig wirksam. Man hatte seinen Freihafen und brauchte nun viel Platz, um all die schönen Waren zu lagern. Schiffe aus aller Welt brachten Kaffee und Kakao, Tabak oder Gewürze nach Hamburg. Die Speicherstadt hatte die Bombenangriffe des Krieges überstanden, allerdings nicht schadlos. Trotzdem waren die noch stehenden Speicherhäuser eine Ausnahme, denn die Bebauung rundherum war schlicht ausradiert.

Ich steige an der U-Bahn-Haltestelle Messberg aus, lasse das Kontorhausviertel links liegen und marschiere Richtung Hafen. Der Weg führt mich immer am Zollkanal entlang, dem kann ich leicht folgen. Die meiste Zeit sehe ich vor mir das markante Dach der Elbphilharmonie, die nach etlichen Verzögerungen endlich fertig gebaut wurde und sich sofort zur Attraktion der HafenCity anschickte.

 

Der Zollkanal am U-Bahnhof Messberg. Vermutlich ist gerade Ebbe, jedenfalls geht es mächtig tief runter. Bei Hochwasser kann die Elbe bis an den Rand der Brüstung steigen.

 

Am gegenüberliegenden Ufer reihen sich die Kontorhäuser aneinander. Dazwischen sicher auch Speicherböden, denn ich kann die Türen sehen, wo die Paletten hinauf gehievt und dann mit einem beherzten Griff ins Innere der Häuser gezogen werden müssen. Ob da heute noch viele Schiffe mit Waren ankommen? Ich sehe kein einziges, dafür aber etliche Ausflugsboote, dicht bepackt mit Touristen. Mich interessiert schon bald etwas anderes, nämlich eine Brücke. Davon werden noch einige kommen, alle haben ein paar Überraschungen für mich parat, die entdeckt werden wollen.

Ein Boot der Küstenwache liegt vor dem Zollmuseum. Der zollfreie Status des Freihafens wurde vor einigen Jahren abgeschafft, denn er machte in einer zollfreien EU wenig Sinn. Aber in einem internationalen Hafen hat der Zoll vermutlich trotzdem immer viel zu tun. Dieses Boot ist vermutlich kein museales. Im Fall des Falles wird es wohl schneller auslaufen können, als man erwartet. Aber als ich dort bin, bleibt alles ruhig. – Später, vor Ort, erfahre ich, dass das Schiff längst ausgemustert ist und tatsächlich Teil des Museums ist. Man darf an Bord und alles ausbaldowern. Mir ist die ‚Treppe‘ ins Innere zu steil, da drehe ich lieber rechtzeitig wieder ab und beobachte staunend den Kormoran, der hier regelmäßig jagt und fischt.

 

 

Die nächste Brücke kommt in Sicht. Ihr Name: Kornhausbrücke. Sie soll schon vor Jahrhunderten die Stadt mit der Brookinsel verbunden haben. Dort stand der stadteigene Kornspeicher, daher der Name. Dann wurde die Brücke neu gebaut, das soll 1887 passiert sein. Also im Zuge der Errichtung der Speicherstadt. Schließlich schmückte man die Brücke noch mit vier ziemlich großen Figuren. An der südlichen Auffahrt standen Captain Cook und Magellan; beide Figuren wurden im Krieg zerstört. Die historischen Seefahrer an der Nordseite haben keinen Schaden genommen. Dort kann man also noch heute Christoph Columbus und Vasco da Gama begrüßen. Sie machen etwas her, keine Frage. Und dasselbe kann man von den Damen sagen, die die Ecken der nächsten Brücke schmücken. Das ist die sogenannte Brooksbrücke, die zur Grasbrooksinsel führt. Hier halten Europa und Hammonia wacht und am südlichen Ende stehen Barbarossa und der heilige Ansgar. Die Damen tragen Schals, was nett aussieht, ihnen aber vermutlich erst in jüngerer Zeit umgelegt wurde.