U1 – Jungfernstieg

Mitten in der Coronazeit, im Herbst 2020, wurden die Arbeiten beendet. Man hatte die U-Bahnstation gründlich restauriert. Decken, Wände und Böden bekamen neues Material und neue Farben. Aber das war noch nicht alles. Es musste viel instand gesetzt werden, der Zugang sollte endlich barrierefrei werden und der Bahnsteig musste auf ganzer Länge aufgestockt werden, damit man auf dasselbe Höhenniveau kam, wie in den Zügen. Ich hatte von den Arbeiten wenig mitbekommen, denn ich war in dieser Zeit kein einziges Mal in der Stadt.

Erst vor ein paar Wochen, als ich mit der U1 bis zum Stephansplatz fuhr, kam ich erstmals durch den renovierten Bahnhof. Ich hatte einen Fensterplatz und als der Zug im Bahnhof Jungfernstieg anhielt, war die Tunnelwand gleich neben mir. Ich stutzte, denn da draußen war alles schwarz. Eine tiefdunkle Wand, durch nichts gegliedert, lediglich ein schmales Schild zeigte alle paar Meter den Namen der Station an. Die Wandoberfläche schien rauer Beton zu sein, den man schwarz angestrichen hatte. Da fehlte offensichtlich noch die Wandverkleidung. Ob nun Fliesen oder Paneele oder was auch immer. Dann schlossen die Türen und wir fuhren weiter. Mein Blick ging noch kurz zum Bahnsteig, wo eine metallisch reflektierende, silberfarbene Decke vorbeizog. Dann tauchten wir in den Tunnel ein. Vermutlich auch ein Provisorium, so dachte ich, denn es sah so aus, als hätte man dort eine knitterige Folie verlegt. Allerdings eine sehr außergewöhnliche, vermutlich recht teure ‚Baufolie‘. Ich hatte nur wenig Zeit, bloß einige Sekunden, um alles zu sehen, zu beurteilen, einzuordnen. Und natürlich lag ich falsch, gründlich falsch.

Was ich gesehen hatte, war keine Baustelle, sondern das fertige Ergebnis der kompletten Neugestaltung. Und wie so oft im Leben, war es sinnvoll einen zweiten Blick zu werfen und dann das Urteil noch einmal neu zu überdenken. Eines ist ganz sicher, man hat sich getraut, etwas gänzlich Neues anzubieten. Anstatt nur ein wenig auszubessern, hier und dort die Farbe zu erneuern, ist man viel radikaler ans Werk gegangen. Zunächst gab es bautechnische Vorgaben. Durch die Erhöhung des Bahnsteigs wurde der Abstand zur Decke um fast 20 cm verringert. Das war bedeutsam, denn der Bahnhof war schon immer relativ beengt. Das hat mit der Lage zu tun, seitlich stößt man an die Alster und oben fahren die Autos auf dem Jungfernstieg. Außerdem muss man den gesamten U-Bahnknotenpunkt betrachten, denn dort am Jungfernstieg kreuzen sich Wege von sechs Linien (U1, U2, U4 + S1, S2, S3). Künftig kommt dann auch noch die U5 hinzu. Ein Mega-Bahnhof, der nicht nur einen ausgeklügelten Grundriss haben muss, sondern auch ganz exakt in der Höhe abgestimmt sein muss. 

Jahrzehntelang waren die Wände des U1-Bahnsteigs mit leuchtend orangen Fliesen dekoriert. Auffällig, aber nicht schön, schon gar nicht elegant. Dazu grelles Licht aus Neoröhren unter der Decke. Ein paar Bänke, die üblichen Reklametafeln und Stationsschilder mit Hinweisen zu den Ausgängen. Man konnte wählen, ob man an den Alsterarkaden oder am Reesendamm zurück ans Tageslicht wollte. Alle anderen Ziel erreichte man über mehr oder weniger lange Tunnel. Meine Lieblingsstrecke erinnere ich aus der Kindheit noch ganz genau. Es war der ‚Karstadt Tunnel‘ zur Mönckebergstraße. Auf dem Plan wird er ‚Vitrinen Reich‘ genannt und ich vermute, dass er noch genauso aussieht wie damals, vor fünfzig Jahren. Da war in diesem leicht gewundenen Gang ein Schaufenster neben dem anderen und in allen hatte das Kaufhaus eine Märchenwelt dekoriert.

 

Karstadt in der Mönckebergstrasse.   Bildquelle: Museum für Arbeit / SHMH   Foto: Hermann Tiede, 15.07.1966

 

Besonders zur Weihnachtszeit kamen wir aus dem Staunen nicht mehr heraus. Da fuhren elektrische Züge durch Winterlandschaften und plüschige Helfer packten Nikolaus die Geschenke in den Sack. Alles bewegte sich wie von Geisterhand geführt und schließlich fiel sogar Schnee vom künstlichen Himmel. Wir waren fasziniert und konnten uns nicht losreißen. In unserer Welt gab es keine Bildschirme, noch nicht mal TV-Geräte im Wohnzimmer. Selbst das Kino war eine absolute Ausnahme und deshalb waren wir optisch ziemlich verhungert und glaubten alles müsse echt sein, was man uns zeigte. Eine Zauberwelt hinter kleinen Glasscheiben in einem ziemlich nichtssagenden U-Bahn-Tunnel. Immerhin habe ich die Bilder bis heute im Hirn gespeichert. Und zum Glück hatte ich eine sehr geduldige Mutter, die mir alle Zeit der Welt ließ, um jedes Detail genauestens zu betrachten.

 

Bildquelle altes Foto: Wikimedia Commons,Ingolf from Berlin, Deutschland, Jungfernstieg – Hamburg – U-Bahn (13307246295), CC BY-SA 2.0

 

Vergleicht man den alten Zustand mit dem neuen Design, dann erkennt man den Mut der Architekten. Man hat dem Bahnsteig einen völlig neuen Look gegeben und dabei geschickt die baulichen Gegebenheiten so gut wie möglich kaschiert. Durch die schwarz-weiße Gestaltung wurde der Bahnhof unverwechselbar und tatsächlich ist die drückende Enge gewichen. Wahrscheinlich auch durch die interessante Deckenverkleidung. Sehr aufwendig und wie ich auf der Webseite der Hochbahn erfuhr, mit einem Hintersinn gestaltet. Die wellige Oberfläche soll an das Wasser der Alster erinnern. Es ist ein wenig so, als würde man von unten durch die Binnenalster ins Sonnenlicht schauen. Interessante Idee und gut verwirklicht. 

An den alten Bahnsteig erinnert nichts mehr. Oder? Doch, wenn man genau hinsieht, dann findet man doch noch ein Relikt aus vergangenen Zeiten. Dabei handelt es sich um einen Holzpfahl, der mich bereits als Kind stets aufs Neue beeindruckte. Damals wusste ich nicht, warum er im Bahnhof steht, aber er zog mich an wie ein Magnet. Kein Wunder, denn in den deckenhohen Pfahl wurden Figuren geschnitzt. Sie schauen zu allen Seiten neugierig heraus. Heute ist es Dank Internet einfach herauszufinden, welche Geschichten damit verbunden sind. Es handelt sich um einen Rammpfahl aus Eichenholz, der bei Bauarbeiten in den 1930er-Jahren gefunden wurde. Man konnte ihn als Teil des Stauwehrs des Alstermühlendammes identifizieren. Das bedeutet, dass die Eiche bereits Anfang des 13. Jahrhunderts gefällt worden war. Siebenhundert Jahre ist das Holz alt und daran sollen die sieben Frauen erinnern, die der Künstler in die Plastik hineingeschnitzt hat. 

Die Eröffnung der Haltestelle fand am 28. April 1934 statt. Die Baustelle war für alle eine Herausforderung. Man musste sich tief in den Untergrund der Alster graben und stets mit Wassereinbrüchen rechnen. Genau das passierte dann auch und führte zu langen Bauverzögerungen. Schlimmer war aber der schwere Unfall, den der Arbeiter Otto Liss erlitten hatte. Er starb an den Folgen und eine Gedenktafel in der Haltestelle, gleich neben der Eichenpfahl-Plastik, erinnert noch heute an ihn.