Besser als gedacht

Als ich meinen Nachbarn von meinem Umzugsplan erzählte, erntete ich nicht selten lautes Schweigen und manchmal sogar offene Kritik. Mir war selbst klar, dass ich einen ziemlich drastischen Ortswechsel vor mir hatte, aber ich sah der Sache eher mit Vorfreude entgegen. Die letzten zwei Jahrzehnte lebte ich in den Hamburger Walddörfern. Genauer gesagt im beschaulichen, gut bürgerlichen Stadtteil Volksdorf. Der ist geprägt von Einfamilienhäusern mit hoher Hecke. Eng daneben entstanden in den letzten Jahren zahlreichen Neubauten mit Eigentumswohnungen. Eine grüne Oase, mit eigenem Wald, viel Natur und einem Ortskern mit einigen Geschäften. Geht der Volksdorfer einkaufen, dann geht er ‚ins Dorf‘ und genauso fühlt es sich auch an. Die Kultur kommt ein wenig zu kurz, genau wie die spontane Begegnung, weil die Möglichkeiten fehlen. So mancher spürt Langeweile, besonders wenn er/sie viel Zeit hat. Mir ging es so nach meinem Rentenbeginn und irgendwann merkte ich, dass ich eigentlich gar nicht mehr lebe, sondern lediglich den Alltag routinemäßig verwalte.

Es musste sich etwas ändern und ich begann den Wohnungsmarkt zu studieren. Es ergab sich eigentlich ganz von allein, dass ich schon bald eine geeignete Adresse fand. Die neue Wohnung war ausgerechnet in der HafenCity. Mehr Kontrast ist selbst in Hamburg kaum denkbar. Die HafenCity ist ehemaliges Industrie- und Hafengebiet, das nach Einführung des Containers überflüssig wurde. Ein Problem, das damals alle Hafenstädte der Welt erlitten. Was tun mit der verlassenen Fläche, die zum Wohnen unattraktiv ist. Klar, man kann den Boden sanieren, die Infrastruktur erneuern und dann mit dem Bau von Häusern beginnen, aber wird das Publikum die Sache annehmen? Der Hamburger Senat hat sich vor der Planung an anderen Orten umgeschaut. Vor allem hat man London besucht, denn dort wurden die Docklands bereits umgestaltet. Daran orientiert man sich und begann mit der größten Baustelle Europas. Heute, 12 Jahre später, ist vieles noch im Werden. Aber die ersten Quartiere sind längst bezogen. Ein komplett neuer Stadtteil hat angefangen zu leben. Spannend, attraktiv und kreativ. Eine einmalige Gelegenheit, wenn man es unmittelbar erleben darf. 

Eine Nachbarin brachte die negativen (Vor-) Urteile auf den Punkt: „Ach du meine Güte! HafenCity? Da würde ich niemals hinziehen. Dort ist es laut und schmutzig. Es stinkt und überall ist Baustelle. Und außerdem gibt es so viele Spinnen.“ Das letzte wusste sie von einer Freundin, die wegen der Invasion der achtbeinigen Tiere, die teure Eigentumswohnung gleich wieder verkauft hatte. Nachdem ich nun seit einer Woche hier lebe, kann ich die Erfahrung nicht bestätigen. Meine Wohnung liegt im dritten Stock, also fast 25 Meter über dem Straßenniveau, denn alle Gebäude haben einen 15 Meter hohen Sockel, um gegen Hochwasser auch im Extremfall gesichert zu sein. Insekten sind kein Hochflieger. Sie halten sich dort auf, wo sie Nahrung finden. Mücken beispielsweise bevorzugen den bodennahen Raum, denn dort finden sie durchblutete Menschenbeine und -waden. Bienen und Wespen halten sich bei den Blüten auf und Spinnen sind auch eher am Boden zu finden. Also, das Vorurteil habe ich hoffentlich entkräften können.

Was aber ist mit dem Lärm? Ja, den gibt es. Meine Wohnung liegt zur Straßenseite, ist relativ schmal und nicht übermäßig stark befahren. Trotzdem höre ich jedes Auto, jedes Kinderlachen und jedes laute Staunen (sobald sie die Elphi sehen) deutlich, denn die engen Straßenschluchten tragen den Schall bis in die Dachwohnung. Merkwürdigerweise stört es mich nicht. Selbst nachts schlafe ich mit offenen Fenstern. Sobald ich sie schließe, kehrt himmlische Ruhe ein, denn moderne Bautechnik kann erstaunlich gut isolieren. Sei es gegen Kälte oder Schall. Aber wie schon erwähnt, ich mag diese Geräusche, den ‚beautiful noise‘, den bereits Neil Diamond besungen hat. Es ist der Lärm einer lebendigen Gesellschaft. Da werden Getränke und Speisen angeliefert, der Müll abgeholt, die Touristen im Bus herumgefahren oder man trifft sich einfach mit anderen. Das fiel mir schon in London auf, wo ich stets ein Hotel im Zentrum hatte und gerne dem ‚huzzle & buzzle‘, der von der Straße hoch drang, lauschte. Mag sein, dass andere es anders empfinden. Jedenfalls war mein Gefühl der lähmenden Einsamkeit verschwunden, sobald ich die neue Geräuschkulisse entdeckt hatte.

Kommen wir zum Geruch, denn noch immer wird in unmittelbarer Nähe gearbeitet. Ich lebe vis-à-vis zum realen Hafen. Vom Wohn- und Schlafzimmer habe ich freien Blick auf die Norderelbe, die keine fünfzig Meter entfernt vorbeifließt. Gegenüber, am Süd-West-Terminal, wird Tag und Nacht gearbeitet. Das höre ich nicht, kann aber die Scheinwerfer sehen, die die riesigen Krane wie gerade gelandete Raumschiffe aussehen lassen. Manchmal fährt ein Stückgutfrachter vorbei oder legt dort sogar an. Der ist zwar nicht ganz so groß wie die Containerschiffe, hat aber immerhin eine Länge von 250 Metern. Und vorgestern schob sich ein Kreuzfahrt-Riese vorbei. Gigantisch und sehr aufregend. Der bläst dann sein Horn zum Gruß und ich winke vom Balkon zurück. Das übertraf meine größten Erwartungen. Trotzdem muss gesagt werden, dass die Luft in der Stadt schmutziger als am Stadtrand ist. Die Belastung mit Feinstaub etc. ist sicherlich höher. Und der Geruch ist natürlich ein anderer, denn das Wasser hat seinen ganz eigenen Duft. Statt Maiglöckchen haben wir hier eine maritime Salzbrise. Ich mag es, kann gut damit leben.

 

 

Eine Sache ist völlig anders. Ich merke es abends und früh morgens. Dann, wenn die Natur erwacht. Die lebt zum Glück überall, sowohl im Wald als auch am Fluss. Die markante Änderung betrifft die Vögel. Jeder kennt es, wenn man morgens aufwacht, dann hört man sie singen. Wobei eine Amsel besser klingt als zwei gurrende Tauben. In der HafenCity hört sich das ganz anders an. Dort wird gekreischt und gelacht, mal schrill und dann auch wieder sehr lustvoll. Hier haben nämlich die Möwen die Lufthoheit und bestimmen die Musik. 

Ich bin zu kurz im neuen Stadtviertel, um ein qualifiziertes Urteil abzugeben, kann aber sagen, dass die Bedenken meiner Nachbarn unbegründet waren. Ich fühlte mich sofort wohl und habe bereits erste Kontakte geknüpft. Das ist hier deutlich einfacher, denn es gibt unzählige Möglichkeiten irgendwo zu sitzen und ins Gespräch zu kommen. Sowohl die Touristen als auch die anderen Bewohner sind sehr offen. Die einen sind nur zu Besuch und die anderen leben auch erst seit kurzer Zeit hier. Alle sind auf der Suche, sind offen und freuen sich über einen netten Austausch.

 

Am Sonntagmorgen bin ich mal eben an die Elbe gegangen. Ich wollte nachsehen, wie die Boje aussieht. Ich kann sie vom Fenster aus sehen und mag den Lichtkegel, den sie nachts über den Fluß schickt. Inzwischen weiß ich, dass sie zu den ‚Schutzbojen‘ gehört. Sie sperrt den Uferbereich gegen Schiffsverkehr ab.