Die großen Fünf

 

Da sind sie, ‚the Big Five‚. Hamburgs bedeutendsten Kirchen: St. Jakobi, St. Petri, St. Katharinen, St. Nikolai und St. Michaelis. Allerdings ist mein Foto eine Mogelpackung, auch wenn dort fünf Türme zu sehen sind, wobei sich einer hinter einem Hochhaus versteckt. Schwerer wiegt der Turm ganz links, denn er gehört zum Hamburger Rathaus. Definitiv kein Kirchenbau. Was hier fehlt, ist der Michel, der sich von meinem Standpunkt aus zu weit im Westen befindet, um ihn mit auf das Bild zu bekommen. Deshalb darf er sich solo präsentieren bzw. mit einem sehr viel jüngeren Turm, der aber noch immer der höchste in der Stadt ist. Der Heinrich-Hertz-Turm in St. Pauli. Immerhin 276,5 m hoch und damit doppelt so  hoch wie der Michel-Turm. Aber weiter von mir entfernt und damit optisch um die Hälfte gekürzt.

 

 

Diese fünf Kirchen sind nicht die ältesten im Stadtgebiet. Da zählen eher kleine Häuser, wie die Alt-Rahlstedter Kirche oder das Gotteshaus in Bergstedt. Die ‚Big Five‘ sind die fünf Hauptkirchen, die für das alte Hamburg wichtig waren, denn sie gliederten das Stadtgebiet in Kirchenkreise. Wer gesellschaftlich aufsteigen wollte, brauchte einen Bürgerbrief und eine ehrenamtliche Aufgabe in einem der Kirchenkreise. Das war das Sprungbrett, um später ins Rathaus oder in die Bürgerschaft zu wechseln. Was heute die Bezirksverwaltungen leisten, wurde damals im Kirchenkreis erledigt. Es waren die Kirchspielmitglieder, die öffentliche Aufgaben, wie das Schulwesen oder die Stadtverteidigung organisierten. Sie entschieden auch über Gelder für die Feuerwehr und kümmerten sich um Waisenkinder und verarmte Witwen. Ein soziales Gefälle gab es schon damals zwischen den Kirchkreisen. Es fand Ausdruck in einem Vers, den damals jeder kannte: St. Petri de Rieken, Nikolas desglieken, Katharinen de Finen, Jacobi de Buren, Michel de Armen, de möt God sich erbarmen. 

Auf der Karte kann man ahnen, warum die Michel-Gemeinde als arm galt. Um ihn herum war Hafengebiet, dort wohnten Tagelöhner. Zudem stand er in der Neustadt, von der der bischöfliche Teil, die Altstadt, nicht viel hielt. Die Neustadt war eine gräfliche Gründung und wollte vor allem Profit machen. Das war beim Bischof nicht anders, aber man sagte es nicht laut. Alle fünf Kirchen stehen noch heute, allerdings wurde die Nikolaikirche im Krieg schwer zerstört und wurde nicht wieder aufgebaut. Ihre Ruine ist eine eindrucksvolle Erinnerung an die barbarische Zerstörungskraft eines Krieges.

 

Karten Quelle: OpenStreetMap | ODbL 1.0 license

 

Meine Lieblingskirche ist St. Jakobi, die so nahe an der Mönckebergstraße liegt und doch ein idyllisch grünes Versteck gefunden hat. Aber eigentlich gefällt mir der Turm von St. Katharinen noch besser und der Michel ist natürlich ein Wow-Erlebnis, sobald man seinen strahlend hellen Innenraum betritt. Die Nikolaikirche ist nicht nur ein ganz besonderes Denkmal, sondern trägt auch die Handschrift eines berühmten englischen Architekten (und rangiert damit bei mir sofort auf den vorderen Plätzen) und in St. Petri kann man noch hautnah sehen, wie die Belagerung während des Napoleonischen Krieges gewesen sein muss. Also eigentlich kann ich mich nicht entscheiden, sie sind alle charaktervoll und mehr als einen Besuch wert. 

 

Noch einmal der Turm des Michels. Ich bin am Abend am Zollkanal unterwegs. Gegenüber ankert das Schiff der Fußschifferkirche. Die Elbe liegt tief, denn die Ebbe hat längst eingesetzt. Bald kommt der Fluss für einen Moment zum Stillstand, dann drückt das Wasser wieder in die Fleete.

 

Jede der fünf Hamburger Hauptkirchen hat so viel erlebt, dass ein eigener Beitrag mehr als gefüllt werden kann. Hier also nur eine Kurzbeschreibung, ein paar Stichworte, die ich gesammelt habe. Fangen wir mit der Michaeliskirche an, obwohl sie mit Abstand die jüngste unter den Big Five ist. Immerhin hat sie einen Kosenamen, den jeder kennt:

 

Der Michel

Inzwischen schon der dritte Neubau, denn das Kirchenhaus wurde von einigen harten Schicksalsschläge getroffen. Der erste Bau wurde 1647 fertiggestellt und sollte nur drei Jahre stehen. Im März 1750 schlug der Blitz ein und entfachte ein Feuer im Turm. Der brannte nieder und stürzte lichterloh brennend durch das Dach des Kirchschiffs. Der Wiederaufbau wurde in Windeseile beschlossen, man machte sich schnell an die Arbeit. Dieser zweite Bau stand bis zum Sommer 1906. Dann brach erneut Feuer im Turm aus. Diesmal waren Lötarbeiten, erneut am Turm, der Grund für den verheerenden Brand. Dann erfolgte der dritte Aufbau. Er stand länger als alle Vorläufer und schien sogar den Angriffen im Zweiten Weltkrieg widerstehen zu können. Bis dann doch noch ein Bombentreffer das Hauptschiff massiv beschädigte. Man konnte es reparieren und die Krypta, die darunter liegt, blieb sogar vollständig heil. 

Der Michel wurde also erst Mitte des 17. Jahrhunderts gebaut und stand damals noch außerhalb der Stadtmauern. Trotzdem wurde er schnell der Liebling der Hamburger, vielleicht weil er der erste sichtbare Gruß war, wenn die Männer auf ihren Schiffen von langer Seereise zurückkamen. Der Turm war schon in der zweiten Bauversion 132,14 m hoch und damit sechs Zentimeter kürzer als St. Petri. Eigentlich gar nicht zu sehen, aber die Kollegen an der Steinstraße hatten einen Vorteil. Sie hatten sich den höchsten Punkt auf dem Geestrücken als Bauland ausgesucht und konnten damit noch einmal gut 10 Meter wettmachen. – Die Aussicht von der Plattform im Michel-Turm ist gigantisch. Besonders abends, wenn man oft noch spät Besucher einlässt. Und vor allem gibt es einen Fahrstuhl, das ist für mich unbezahlbar. Selbst in jungen Jahren hätte ich den Aufstieg verweigert. Und noch etwas ganz Besonderes hat der Michel zu bieten. Zweimal täglich, vormittags und am Abend greift der Türmer zu seiner Trompete. Sein Gruß schallt in alle vier Himmelsrichtungen. Da freuen sich dann alle Sinne, nicht nur die Ohren, sondern auch die Gänsehaut reagiert erfreut.

 

St. Petri

Namensgeber ist der Heilige Petrus. Die Kirche ist die älteste in Hamburg. Sie fand schon 1195 erste Erwähnung. Danach wurden diverse Erweiterungen vorgenommen. Lange trotzte die Petri Kirche allen Widrigkeiten. Als aber im Mai 1842 der Große Hamburger Brand ausbrach, stand sie selbst im Mittelpunkt des Geschehens. Der Turm und das Kirchenschiff brannten bis auf die Grundmauern nieder. Ein Neubau an gleicher Stelle wurde errichtet. Ein paar uralte Relikte konnten gerettet werden. Darunter zwei Reliefs, große Löwenköpfe, die an der Außenseite der Haupteingangstür befestigt sind. Wenn beide Türflügel offen stehen, kann man sie nicht sehen. Also ruhig mal dahinter schauen und staunen. 

Der Turm der St. Petri Kirche kann ebenfalls erklommen werden. Leider nur zu Fuß, aber der Ausblick soll überwältigend sein. Wer also gut gefrühstückt hat und möglichst kein Gedränge will, der findet dort oben seine ganz persönliche Fotobühne.

 

St. Nikolai

Auch eine hochbetagte Kirche, die schon 1195 gegründet wurde. Danach gab es etliche bauliche Erweiterungen, bis 1589 ein Blitz in den Turm einschlug. Erneut wurde eine Kirche durch Brand zerstört. Der zweite Bau erlebte sein Desaster ebenfalls am Turm. Diesmal aber kein Gewitter, sondern ein Sturm. Der war so heftig, dass das Mauerwerk einstürzte. Das passierte 1644. Es dauerte 13 Jahre, bis ein dritter Turm fertig wurde. Der erlitt dann dasselbe Schicksal wie St. Petri. Beim Großen Brand 1842 wurden beide Kirchen verwüstet. Wie immer, entschied man sich für einen Wiederaufbau, und zwar an gleicher Stelle und möglichst schnell. Man schrieb einen Wettbewerb aus, der von einem bekannten englischen Architekten gewonnen wurde. Sein Name ist Sir George Gilbert Scott. Ich kenne seine Bauwerke in London, denn die Waterloo Bridge und die berühmten roten Telefonzellen wurden von Scott entworfen. Allerdings nicht vom Senior, sondern von seinem gleichnamigen Sohn bzw. Enkelsohn. Sein Hamburger Kirchenbau fand weltweit Beachtung, schließlich war es das höchste Gebäude in der damaligen Zeit. Einhundert Jahre später brach der Zweite Weltkrieg aus. Die grauenhafte ‚Operation Gomorrha‘ wurde im Sommer 1943 über Hamburg ausgeführt. Tag und Nacht luden Bomber ihre Brandbomben über der Stadt ab. Die Angriffe wurden von amerikanischen und britischen Einheiten geflogen. Gut möglich, dass es ein Engländer war, der das Bauwerk von Scott in Schutt und Asche legte. Man ließ die Ruine stehen als Mahnmal an das Geschehen und an alle Opfer dieser Zeit. Ich war erst vor ein paar Wochen vor Ort. Also nicht nur ein Blick aus der Ferne, sondern wirklich innerhalb der Mauern, die noch stehen. Es war sehr bewegend, sehr eindringlich und sehr beeindruckend. Ich empfehle den Besuch jedem, egal ob jung oder alt.

 

St. Jakobi

Leider habe ich sie noch nie von innen gesehen. Von außen auch nicht so oft, denn sie liegt zwar an der Mönckebergstraße (eigentlich an der Steinstraße), aber ein wenig in der ‚zweiten Reihe‘. Dafür ist es dort ruhiger als bei den anderen Hauptkirchen. Oft ist man ziemlich alleine auf dem Vorplatz und nichts ist schöner als eine Pause auf der Bank mit Blick zu den Efeu-bewachsenen Außenwänden. Ja, die Kirche ist irgendwie ganz besonders hübsch. Sie wurde im Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstört und gilt doch als mittelalterliches Bauwerk mit besonderem Schutz. Erste Erwähnung fand die Kirche 1255, als sie noch außerhalb Hamburg angesiedelt war. Gleich hinter dem sog. Heidenwall, der die Stadtbewohner gegen die wilden Barbaren schützen sollte. Kirchenschiff und Turm wurden immer wieder erweitert und durch Anbauten ergänzt. Das Glück war hold, denn über Jahrhunderte trotzte das Bauwerk Wind und Wetter. Im Jahr 1769 wurde sogar eine ganz innovative Technik ausprobiert, indem man einen Blitzableiter installierte. Es war der Erste in ganz Deutschland. Er schien zu funktionieren. Erst die Bombenangriffe im Krieg beschädigten das Haus so schwer, dass es fast vollständig zerstört wurde.

Der Friedhof von St. Jakobi lag vor dem Steintor, dort wurden die Gemeindemitglieder begraben. Heute steht darauf der Hamburger Hauptbahnhof, aber natürlich hat man die Gebeine vor Baubeginn umgebettet. Man findet sie seit dem auf dem Hamburger Parkfriedhof in Ohlsdorf.

 

St. Katharinen

Eine Kirche, die ich nie im Blick hatte. Erst seitdem ich mich für eine Wohnung in der HafenCity beworben habe, ist mir St. Katharinen ein Begriff. Sie steht unmittelbar am Rand des Zollkanals und wacht über den alten Teil des Hafens. Sie scheint ein wenig kleiner als die anderen zu sein, aber sie hat Charakter und ist ähnlich schön wie St. Jakobi anzusehen. Außerdem hat man endlich einen Frauennamen gewählt, was mal Zeit wurde. Auch St. Katharinen hat eine lange Vergangenheit, die bis in das 13. Jahrhundert zurückreicht. Die Gemeindemitglieder lebten auf den Elbinseln, die wir heute geografisch gar nicht mehr als Inseln erkennen können, deren Namen aber noch immer geläufig sind: Grimm, Cremon, Brook, Wandrahm und Kehrwieder. Wenn die Sonne scheint, glänzt der Turmhelm golden. Tatsächlich ist dort eine Krone eingearbeitet und laut Sage soll das Metall aus dem Goldschatz von Störtebeker stammen. Kann man es glauben? Warum nicht, mir gefällt es. 

Auch St. Katharinen wurde im Krieg bis auf die Grundmauern zerstört. Was für ein Wahnsinn. Die vielen Opfer und die irrsinnige Zerstörungswut. Ich werde es nie verstehen, auch wenn es sich noch immer wiederholt und täglich in den Nachrichten live zu verfolgen ist. Zum Glück hat man St. Katharinen schnell wieder aufgebaut, trotz der fehlenden Kirchengemeinde, denn die hatte man längst nach Hamm und Umgebung umgesiedelt. Das geschah schon Ende des 19. Jahrhunderts, als Hamburg sich das Recht eines Freihafens erstritten hatte und nun ganz plötzlich viel Bauland für die Speicher brauchte. In Windeseile zog man eine ganze Speicherstadt hoch. Heute stehen die Häuser unter dem Schutz des UNESCO-Weltkulturerbes. Heute wächst die Gemeinde wieder rasant, denn mit jedem neuen Bewohner in der HafenCity kommt potenziell auch ein neues Kirchenmitglied hinzu. Ich schwanke noch, ob ich St. Katharinen besuchen werde oder lieber gelegentlich auf der Fußschiffer-Kirche vorbeischaue. Die hat einen schwimmenden Gemeindesaal auf einem stattlichen Boot im Zollkanal. Aber warum sich entscheiden, ich kann ja auch beides machen, immer schön abwechselnd. Und Weihnachten geht es dann natürlich in den Michel. Und damit schließt sich der Kreis.