St. Nikolai

Ehemals war sie eine der fünf Hauptkirchen Hamburgs. Heute ist die Nikolaikirche eine Ruine und ein Mahnmal. Im Zweiten Weltkrieg wurde sie zerstört und nicht wieder aufgebaut. Ausgerechnet durch britische Fliegerbomben, während der ‚Operation Gomorrha‘, wurde das Gotteshaus endgültig eingeäschert. Das war Ende Juli 1943, an einem heißen Sommertag. Das Wort ‚ausgerechnet‘ drängte sich mir auf, als ich eine Gedenktafel vor Ort fand. Sie hängt an einem Nebeneingang. Darauf dankt man dem Architekten, der St. Nikolai nach dem ‚Großen Brand‘ 1842 wiederaufgebaut hatte. Sein Name war mir geläufig: Sir George Gilbert Scott. Ich kenne ihn von meinen vielen London Besuchen. Scott, der in England geboren wurde, hat dort zahlreiche bedeutende Gebäude entworfen und gebaut. Noch bekannter, zumindest unter Touristen, ist der Nachlass seines Enkels Giles Gilbert Scott. Auch er war ein erfolgreicher Architekt, aber auch Designer. Und so schuf er die roten Telefonzellen, die man noch heute im zentralen London findet, aber nur als Fotomotiv. Das Innenleben, die Telefone sind längst außer Betrieb. Trotzdem ist der Andrang groß, denn jeder will ein Selfie mit der roten Box im Hintergrund mit nach Hause nehmen.

 

Was für ein Turm! Fast 150 Meter neu-gotische Baukunst stehen vor mir. Wie bekommt man den aufs Bild?

 

Zurück nach Hamburg, zurück zur Nikolaikirche. Sie ist leicht zu finden, denn ihr hoher Turm kann schon aus der Ferne eindeutig ausgemacht werden. Tatsächlich war sie einige Jahre lang das höchste Gebäude der Welt. In Hamburg liegt sie noch immer auf Platz 2, hinter dem Fernsehturm. Aber bisher sind wir Hanseaten keine Fans von Wolkenkratzern; das kann sich bald ändern, wenn der Elb-Tower in die Höhe wächst bzw. das Bauland knapp wird.

Die Nikolaikirche hat ein bewegtes Schicksal. Irgendwie scheint kein guter Stern auf der Grundsteinlegung im Jahr 1195 geschienen zu haben. Ihr Turm wird erstmals im Juli 1589 vom Blitz getroffen und brennt bis auf das Fundament ab. Das Gleiche passiert dem Neubau. Auch dieser Turm wird schon bald darauf, nämlich 1644, während eines Unwetters zerstört. Und fast hätte man es ahnen können, die Serie setzt sich fort. Erneut schlägt der Blitz ein, diesmal passierte es während eines Gewitters im August 1767. Danach baut man einen Blitzableiter ein, der Erste seiner Art in Deutschland. Aber es hilft alles nichts, das Drama geht weiter. Im Jahr 1801 erleidet der Kirchturm erneut schweren Schaden, wieder durch einen Blitzeinschlag. Sollte ich in Hamburg von einem Gewitter überrascht werden, werde ich etwas Abstand zur Nikolaikirche suchen. Besser ist besser.

 

Sir George Gilbert Scott war ein gefragter Architekt seiner Zeit. Er schuf für Queen Victoria das Memorial, dass an ihren früh verstorbenen Mann Prinz Albert erinnern sollte, und er entwarf die Nikolaikirche, deren Ruinen noch heute in Hamburg zu sehen sind.

 

Dann bricht im Mai 1842 in Hamburg ein infernalischer Brand aus. Man kann die Flammen nicht unter Kontrolle bringen, sie vernichten innerhalb mehrerer Tage und Nächte einen Großteil der Stadt. Darunter auch die Nikolaikirche. Diesmal brennt nicht nur der Turm, sondern das ganze Gebäude nieder. Ein wahrer Totalschaden. Übrigens, auch eine Parallele zu London, das sein Feuerdesaster bereits 1666 erlebte. Nun steht man also vor den Ruinen und muss entscheiden, ob man die Kirche ein sechstes Mal aufbauen will. Ja, man will und der Architekten-Wettbewerb wird vom berühmten Gottfried Semper gewonnen. Der übrigens in Altona zur Welt kam und nicht etwa in Dresden. Aber der Entwurf von Semper sagt den Kirchenherren nicht zu. Ihm schwebt ein Kuppelbau, ähnlich der St. Paul’s Cathedral vor. Die Hamburger möchten aber lieber wieder einen steil aufsteigenden Kirchturm haben, am besten gleich bis in den Himmel. Da kommt ihnen der Engländer Scott gerade recht, denn der plant eine Kirche im gotischen Stil. Sein Vorbild war nicht der Petersdom, sondern eher der Dom zu Köln. Sein Vorschlag erreicht zwar nur den dritten Platz im Wettbewerb, aber mit ein paar Tricks gelingt es den Bauherren Semper auszubooten.

Als ich die Ruine der Nikolaikirche besuche, sind wir noch mitten in der Coronazeit. Der Fahrstuhl, der einen bis in die Turmspitze bringt, ist geschlossen. Das ist mir ganz recht, denn die Aussicht von dort oben ist bestimmt gigantisch und deshalb verlockend, aber ich habe zunehmend mit Höhenangst zu tun und weiß nicht, ob ich eine Fahrt in einer Glaskabine überstehen würde. Vielleicht mit zugekniffenen Augen? Aber auch so ist der Besuch beeindruckend. Das erste Hindernis ist nicht leicht zu überwinden. Wie soll man einen so großen Bau aufs Foto bannen? Wenn man davor steht, ist es unmöglich. Ich versuche es vom Kirchenraum aus, der real nicht mehr existiert. Aber die Grundfläche ist zu erkennen, ein paar Mauerreste sind noch an den Ecken stehen geblieben und die Lage der großen Pfeiler, auf denen die Dachkonstruktion ruhte, hat man im Boden markiert. So kann man mit etwas Fantasie den Raum gedanklich entstehen lassen. Ganz am Ende des ehemaligen Kirchenschiffs ist ein Bild von Oskar Kokoschka installiert worden. Geht man näher heran, dann erkennt man die unzähligen kleinen Mosaiksteinchen, aus denen es zusammengefügt wurde. Dort stelle ich mich hin und nehme den fast 150 Meter hohen Turm etappenweise auf. Vielleicht lassen sich die Einzelbilder am Bildschirm zu einem Panorama zusammenfügen? Ja, es gelingt. Per Mausklick können sie die Vergrößerung in aller Schönheit bewundern.

Es gibt noch vieles zu entdecken. Sowohl in Hinblick der ehemaligen Kirche als auch der heutigen Nutzung als Gedenkstätte ‚für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft zwischen 1933-45‘. Ich habe nur einen ersten Eindruck mitgenommen, komme aber sicherlich bald wieder hierher. Die Lage der Kirche ist so zentral, dass man unweigerlich dort vorbeikommt. Egal, ob man den Hafen besucht oder einen Bummel über den Jungfernstieg macht. Eigentlich gäbe es auch noch einen weiteren triftigen Grund zurückzukommen. Denn in den noch immer vorhandenen Kellergewölben lagern seit Jahrzehnten edle Weinflaschen. Leider hat die Weinhandlung 2005 wegen Insolvenz schließen müssen. Vielleicht findet sich doch noch ein Nachfolger, dann könnte man dort noch eine Weinprobe machen. – Gerade als ich weitergehen will, schlägt es zwölf Uhr mittags. Und das bedeutet, dass auch die Glocken im zerstörten Turm erklingen. Es sind nicht die großen Kirchenglocken, sondern es ist ein kleines Klangspiel, ein sogenannte Carillon. Man hat es 1993 in den Turm eingebaut und ich hatte das Glück das mittägliche ‚Konzert‘ zu erleben. Ein schöner Abschluss für eine gelungene Fototour in Hamburg.