Ernüchterung

Gerade noch rechtzeitig machte mich eine Nachbarin auf die ‚Tage der offenen Tür‘ in der Elbphilharmonie aufmerksam. Das ganze Wochenende kann man im Konzerthaus nach Herzenslust herumlaufen und in alle Ecken spähen. Wem die geführte Tour zu teuer ist, darf sich alleine auf den Weg machen. Dann stehen zwar nur die Konzertsäle zur Verfügung, aber das würde mir reichen. Also entschied ich mich für die ’self-guided tour‘ und besorgte mir für 5 Euro ein Ticket. Punkt zehn Uhr stand ich vor der Tür. Der Andrang war groß, aber mein Internet-Ticket sicherte mir Zugang per Fast Lane. Nach wenigen Minuten hatte ich die Eingangssperre durchquert. Es konnte losgehen und endlich konnte ich den umjubelten ‚Großen Saal‘ einmal mit eigenen Augen sehen. Ich war gespannt. 

Wie immer wurden wir via Rolltreppe nach oben transportiert. Auch wenn sie verheißungsvoll ‚Tube‘ genannt wird, hatte sie mich noch nie begeistert, aber darüber habe ich schon öfter geschrieben. Auf der Plaza angekommen, konnte ich nun also ins Innere vordringen. Erst einmal wählte ich die Treppe zum ‚Großen Saal‘. Den wollte ich unbedingt sehen und gleich mal testen, ob ich die Plätze finden würde, für die ich bereits Tickets vorab gekauft hatte. Ein Silvesterkonzert und ein weiteres, das erst im Mai 2024 stattfinden wird. Ich stiefelte also die Treppe hoch, die kein Ende nahm. Alternativ gibt es Fahrstühle, aber deren Zugänge sind gut versteckt. Ich hatte sie jedenfalls nicht gesehen. Etwas außer Atem erreichte ich das 13. Obergeschoss, das die Eingangsebene zum Saal ist. Von dort bis zu den obersten Rängen sind noch vier weitere Geschosse zu erklimmen.

Helles, warmes Holz, wohin man blickt. Wände und Decken ebenfalls hell gestrichen. Kugelförmige Lampen in den Treppenhäusern und einfache Neonröhren in den Fluren. Alles wirkt hell und sauber, aber auch sachlich und wenig einladend. Architektonisch hat man tunlichst den rechten Winkel vermieden, wodurch die Räume verzerrt wirken. Alle Treppenläufe sind leicht in sich gewendelt. Das sieht nett aus, ist aber nicht sehr praktisch. Wer etwas unsicher auf den Füßen steht, läuft Gefahr zu stolpern. Mir passierte es gleich zweimal. Ich hielt mich zwar stets am Handlauf fest, musste dann aber meine Füße schräg auf die einzelnen Stufen setzen (der gerade Pfeil zeigt den Laufweg). Das widerspricht dem natürlichen Gefühl für Sicherheit. Folgt man dem inneren Bedürfnis, die Treppenstufen gerade zu betreten, dann läuft man automatisch aus der Richtung. Nur wer dem Laufweg folgt, der vom gebogenen Pfeil angezeigt wird, kommt sicher nach oben. Dann irritieren aber die Handläufe, die ganz anderen Richtungen folgen.

Nach langen Suchen fand ich die Plätze, für die ich Tickets hatte. Eigentlich sollte es einfach sein, denn die Plätze sind nach Etage, Bereich, Sitzreihe und Nummer sortiert. Nur leider wurde das nicht konsequent verfolgt. Die Bereiche wurden mit den Buchstaben A-Z versehen. Auf der 16. Etage sieht die Reihenfolge aber so aus: Bereich S, dann Y, dann Z. Wo ist der Bereich X? Eine Mitarbeiterin wusste es und zeigte mir den Zugang. Der lag weit abseits von dem Ort, an dem ich ihn vermutet hätte. Also wenn man schon das Alphabet bemüht, dann sollte man die Reihenfolge der Buchstaben nicht neu erfinden.

Ein Ticket hatte ich für einen Platz ganz oben, gleich unter dem Dach. Dort schaute man steil in den Saal hinab. Damit hatte ich gerechnet und es war für mich noch gerade so im Bereich, wo ich es aushalten kann. Aber mein zweites Ticket für die mittlere Ebene, also deutlich tiefer, erwies sich als Katastrophe. Von dort war es gar nicht weit bis zur Bühne, aber die Platzreihen waren steil gestaffelt. Ich hätte vom Zugang vier Reihen nach vorn gehen müssen, über eine steile Treppe, ohne Handlauf an der Seite. Mit anderen Worten freihändig in die Tiefe balancieren. Das überfordert mich und deshalb werde ich schweren Herzens das Konzert nicht besuchen können. Falls Sie also nicht ganz schwindelfrei sind, passen Sie gut auf, bevor Sie sich für einen Platz entscheiden.

Draußen pladderte der Regen gegen die Scheiben. Das Wetter war wirklich trüb, aber nicht der Grund für meine nicht minder trübe Stimmung. Irgendwie war ich enttäuscht. Natürlich über die Erkenntnis, zwei unbrauchbare Tickets gekauft zu haben, aber vor allem über den hochgelobten Konzertsaal der Elbphilharmonie. Ich bin mir sicher, dass die Akustik überwältigend gut ist, und weiß auch, dass man unglaubliche Tricks angewandt hat, um ihn schalldicht zu bekommen. Immerhin befindet sich im selben Haus ein Hotel, unten im Keller ein U-Bahn-Tunnel und rundherum Hafen- und Industriegebiet. Das alles macht Lärm und davon darf man im Inneren nichts hören. Das ist den Technikern gelungen. Was aber die Ausstattung angeht, hätte ich mehr erwartet. Da zeigt sich die Elphi ganz im schlichten, sehr einfachen Gewand, was vielleicht durchaus zum Sinn eines Hamburger Kaufmanns passt. Bloß nicht übertreiben, bloß kein Prunk oder Plüsch.

Dreifacher Schriftzug mit tieferem Sinn, wenn auch weit hergeholt.

An den Wänden der Treppenhäuser findet man Hinweise, wohin die Läufe führen. Dort steht dann ‚Großer Saal‘ oder die Bereichsbezeichnungen der einzelnen Geschosse. Bei den Führungen wird auf diese Schriftzüge hingewiesen, den sie beinhalten ein Geheimnis. Schaut man genau hin, fällt auf, dass die Schriften dreifach aufgemalt sind. Die Buchstaben sind ein wenig verschoben und in verschiedenen Grautönen, sodass man die drei Schichten gut ausmachen kann. Das ist eigentlich ein alter Designer-Trick, um die Schrift räumlicher wirken zu lassen. Man verschiebt die Buchstaben minimal und gibt damit dem Schriftzug eine betonte Kontur und einen Schatten. Bei der Elbphilharmonie kann das aber nicht die Absicht gewesen sein. Denn das funktioniert nur dann, wenn man den Schriftfont nicht ändert. Genau das haben die Elphi-Designer aber gemacht und das ist höchst ungewöhnlich und auch nicht unbedingt schön anzusehen. Was also steckt dahinter. Der tiefere Sinn ist in der Geschichte des Hauses zu finden. Zunächst war es als Kaiserspeicher in Betrieb, dann als Kaispeicher A und jetzt als Elbphilharmonie. Auf den Zusammenhang wird wohl kaum ein Besucher kommen, aber deshalb nimmt man ja an Führungen teil, um alle Raffinessen zu erfahren. 

Auf meinem kurzen Nachhauseweg überdenke ich noch einmal meinen kritischen Eindruck, kann aber nichts davon wegwischen. Wahrscheinlich waren meine Erwartungen viel zu hoch geschraubt und deshalb stellte sich die Ernüchterung ein. Und letztlich muss sich jeder selbst ein Bild machen und darf es dann als schön oder schlecht bewerten. Ich mag die Elphi von Außen, ihre einmalige Fassade, die sich Licht und Wetter anpasst und dadurch fast emotional wirkt. Ich mag auch die Plaza mit dem Rundumblick über den Hafen und die Stadt. Dass man dort noch immer kostenfrei hinaufdarf, ist großartig und ich nutze es mit Dankbarkeit. Ich mag die vielen Mitarbeiter, die stets freundlich, geduldig und sehr hilfsbereit sind. Und ich mag den Platz vor der Elphi, wo man im Sommer immer einen freien Platz findet, um ein Buch zu lesen oder einfach den Schiffen auf der Elbe zuzusehen. Nun hoffe ich, dass ich mein Ticket für das Mai-Konzert gegen einen teureren Platz im unteren Bereich tauschen kann, wo ich mich wohler fühlen werde. Wäre doch schade, wenn ich die Dirigentin Marin Alsorp versäumen würde, die ich schon live in den BBC-Promenaden-Konzerten in London erlebt habe. Seitdem gehöre ich zu ihren Fans. Vielleicht bin ich aber auch einfach nur verwöhnt, denn ich habe meine Konzerterfahrungen in London gemacht. In den vielen großen Häusern dort, die bis zu 5.000 Zuschauern Platz bieten und doch gemütlich wirken. Das ist eine andere Epoche und ein Vergleich mit der modernen Elbphilharmonie deshalb vielleicht unangemessen. Aber meine Entscheidung fällt zugunsten der Engländer aus und das ist auch gut so, denn man braucht gute Gründe, um auch nach dem Brexit gelegentlich mal wieder dort hinzufliegen.

 

Die Royal Albert Hall in South Kensington, gleich am südlichen Rand des Hyde Park gelegen. Das Haus fasst bis zu 5.000 Besucher und entsprechend hoch sind die Stuhlreihen gestaffelt. Ich habe mich dort aber immer wohlgefühlt, weil man jeden Rang über einen breiten Flur bequem erreichen kann. Ein anderes Konzept, aber der Elphi ähnlich, denn die Bühne ist in der Mitte des kreisförmigen Saals zu finden. So sieht und hört man fast von allen Plätzen gleich gut.